Für ihre diesjährige Frühjahrstagung hat die Landessynode der evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers einen besonderen Ort ausgewählt. Statt wie üblich im Henriettenstift mitten im Herzen der niedersächsischen Landeshauptstadt zusammenzutreten, trafen sich die Synodalen vergangene Woche erstmals in der Loccumer Klosterkirche. Fernab vom Trubel der Großstadt wollte man lernen, die Dinge anders zu machen. Das Kernstück der viertägigen Synodentagung bildete dabei der Freitagvormittag. Für neun Uhr morgens stand ein Thema auf der Tagesordnung, das bereits in den Tagen zuvor die Berichterstattung dominiert hatte: Wie geht die Kirche mit sexuellem Missbrauch in den eigenen Reihen um – und wie kann insbesondere im Umgang mit den Betroffenen ein Kulturwandel gelingen?

Drei organisatorische Aspekte machten dabei gleich zu Beginn deutlich, wie sehr man sich bemühte, das Andersmachen diesmal richtig zu machen: Erstens wurde allein dieser Teil der Synodentagung in einem Livestream übertragen. Man wollte sich also nicht hinter Klostermauern verstecken, sondern Transparenz herstellen. Zweitens wollte man zunächst einmal zuhören, und zwar Nancy Janz, Sprecherin der Betroffenenvertretung im Beteiligungsforum Sexualisierte Gewalt in der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), die selbst von einem Pastor der Landeskirche Hannovers missbraucht worden war. Und drittens hat man sich abweichend vom ursprünglichen Plan dazu entschieden, dem Wunsch der Betroffenen zu folgen und auf die emotionalen Worte von Janz nicht sofort öffentlich zu reagieren, sondern zunächst in moderierten Kleingruppen das Gehörte zu besprechen. Um für diese Gespräche geschützte Räume herzustellen, wurden die Vertreter der Medien explizit nicht zugelassen.
Die Unterbrechung nach der knapp halbstündigen Ausführung von Nancy Janz kam derweil sehr gelegen. Denn was sie sagte, ging unter die Haut. Janz erklärte, um über Kulturwandel sprechen zu können, müsse man zunächst ein Verständnis von der bestehenden Kultur haben. Sie wollte die Synodalen mitnehmen in jene Kultur, die nun dringend einen Wandel benötige. Am Anfang stünden das Erkennen und Benennen von Fehlern und deshalb wollte sie ihre eigene Geschichte so erzählen, dass die Anwesenden sich damit selbst angesprochen fühlten und sich selbst wiedererkennen könnten. Das sei der erste Schritt.

Am Anfang der Geschichte von Nancy Janz steht der feste Glaube an Gott und ein großer Wunsch nach Geborgenheit in der Gemeinschaft der Christen, die nicht danach fragen, warum jemand da ist. Der Missbrauch fand zunächst im Elternhaus statt, die Kirche war ihr Zufluchtsort, gab ihr nach eigenen Worten zum ersten Mal das Gefühl, zuhause zu sein. Und doch gab es auch da schon in der Kirche wenig Verständnis für das, was sie durch ihre Eltern erlitten hat. Wie Nancy Janz es beschreibt, erfuhr sie vor allem Relativierung: Es sei doch vorbei, man solle Vater und Mutter ehren, man müsse vergeben. „Ich durfte auch nicht zornig sein auf Gott, waren es doch die Menschen, die er mit freiem Willen ausgestattet hat, die mir das angetan haben.“
„Die Hoffnung, dass es Gott auch für mich gibt, hat er ausgelöscht.“
Missbraucht, verunsichert und alleingelassen kam Nancy Janz mit 17 Jahren nach Celle und suchte auch dort wieder Zuflucht in der Kirche. Und sie fand diese Zuflucht: einen Platz in der Gemeinde, Geborgenheit und Vertrauen. Doch ausgerechnet jener Mann, der Pastor der Gemeinde, sollte ihre Verletzlichkeit wieder ausnutzen. „Ich wollte angenommen und geliebt werden – war dieser Wunsch so falsch?“ Der Preis dafür war hoch: „Er nahm sich meinen Körper und ich durfte dazugehören“, beschreibt Janz heute den abscheulichen Tauschhandel, in den sie sich getrieben fühlte.
Ihre Leidensgeschichte wiederholte sich, und doch war etwas anders als früher, sagt sie: „Er nahm mir etwas, das mir die anderen nicht nehmen konnten. Er nahm mir die Hoffnung zu meiner Beziehung zu Gott. Die Hoffnung, dass es Gott auch für mich gibt, hat er ausgelöscht.“ Weil er glaubte, er lebe aus der Gnade Gottes, bedeutete das für Nancy Janz, dass ihr Glaube nicht tief genug sein könne, dass sie nicht fest genug glaubte, dass sie selbst nicht aus der Gnade Gottes lebte. „Ich wollte aus dem Leben gehen, denn hier gab es für mich keinen Sinn mehr.“
„Wer in der weiteren Geschichte wollen Sie sein?“
An dieser Stelle ihrer bewegenden Rede wandte sich Nancy Janz an die Synodalen ganz direkt: „Warum erzähle ich das? Ich erzähle das, weil es kein Einzelfall ist. Es geschieht um uns herum, heute wie vor 20 Jahren.“ Und dann stellte sie die entscheidende Frage: „Wer in der weiteren Geschichte wollen Sie sein?“ Die weitere Geschichte ist nämlich die Geschichte derer, die da waren, die etwas wussten – und die nichts getan haben. Da gab es die Familie, auf deren Kinder Nancy Janz aufgepasst hatte, und die sich abgewandt hat, als sich der Kontakt zum Pastor intensivierte. Sie hatten sie gewarnt, sie wussten, wie er war und was er tat.
Da gab es die Frau des Kirchenvorstehers, die ihr riet, sich fernzuhalten, keinen Kontakt zu ihm zu suchen. War es also ihre Schuld? Und da gab es die anderen in der Gemeinde, die sie gemieden haben, als sich die Sache herumsprach. Die, die geschwiegen oder getuschelt haben, die sich über sie lustig gemacht und sie gedemütigt haben. Die, die ihr unterstellt haben, sie wolle die Familie zerstören, weil sie selber keine habe. Die, die sie rachsüchtig nannten oder unterstellten, sie wolle nur Geld haben.
„Machen Sie die Tür auf, damit wir nach Hause kommen können“
Und es gab die, die sie haben gehen lassen, als Nancy Janz die Gemeinde verlassen wollte. Es sei eben leichter gewesen, den Störenfried ziehen zu lassen. „Das Schlimmste für mich war nicht der Missbrauch. Es war, das Gefühl von Sicherheit im Glauben verloren zu haben, weil sich keine Schwester, kein Bruder an meine Seite gestellt hat.“ Nancy Janz ist gegangen, aber sie ist noch da. Das ist die Botschaft, die sie den Synodalen mit auf den Weg geben wollte: „Nicht alle von uns sind weit weggelaufen. Einige von uns stehen vor den Türen und warten – warten, dass ihnen die Türen geöffnet werden. Machen Sie die Tür auf, damit wir nach Hause kommen können!“
Die Kirche, sagte Landesbischof Ralf Meister in seiner Erwiderung im Anschluss an die Gruppengespräche, habe allerdings erst die Hand auf den Türgriff gelegt. Für viele sei diese Tür aber noch verschlossen. Er bekannte, die Kirche habe nicht gehört, nicht gesehen und nicht getan, was sie hätte tun müssen. Und so müsse sie nun eine „Kirche der Umkehr“ und er ein „Bischof der Umkehr“ sein. Für ihn sei die Anklage der Betroffenen eine einzigartige Anklage, eine „Autorität sui generis“, erklärte der Theologe und meinte: „Wer den Blick auf das Leid vermeidet, negiert oder vertuscht, der hat diesen Satz nicht verstanden.“

Was aber folgt nun? In einem zweiten Impuls mahnte Janz die Synodalen, bloß auf den Maßnahmenplan der EKD-Synode zu warten – selbst dann, wenn es schwer auszuhalten sei, dass alles so lang dauerte. Man solle „bedenken, dass es keine Kleinigkeiten sind, die in der Forum-Studie angemahnt wurden“. Vieles gelte es nun zeitgleich anzugehen: der föderale Flickenteppich müsse aufgelöst, rechtliche Belange berücksichtigt werde, es gehe an die Grundfeste. „Meiden Sie es als Landeskirche, zu schnell loszulaufen. Denn für einen Strukturwandel, braucht es auch Strukturen, zu denen es sich hin wandeln kann. Diese Strukturen müssen einheitlich für alle Landeskirchen sein.“
Gleichzeitig appellierte sie wiederum an die Kirchenleitung, auch nicht völlig untätig zu bleiben, sondern Formate für den Austausch und die Information zu schaffen. Zudem forderte sie ganz konkret angemessene Anerkennungsleistungen, passende Unterstützung, Möglichkeiten zur Vernetzung und eine transparente Kommunikation.
Es wurde deutlich: Die Befassung auf der Frühjahrssynode war kein Abschluss, sondern erst der Anfang. Was bleibt, ist die Hoffnung, dass sich die Tür doch noch wieder öffnet. Beide Seiten scheinen das zu wollen.