Ein Konflikt, der in der katholischen Kirche schon lange schwelt, trifft jetzt auch mit voller Wucht die Protestanten: Nicht nur gab es über Jahrzehnte Missbrauch unter dem Dach der Kirche. Dieser wurde sogar systematisch ermöglicht und die Aufarbeitung wurde verkompliziert oder sogar verhindert. Dieses Urteil klingt hart – und dass nun ganz genau hingesehen wird, ist unbedingt nötig. In zeitlichem Zusammenhang mit der am Mittwoch begonnenen Frühjahrstagung der Landessynode, also des Parlaments der evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers, spitzt sich die öffentliche Debatte über die Verfehlungen der Kirche und ihrer Leitung derzeit zu.

Missbrauchsbetroffene haben den Rücktritt von Landesbischof Ralf Meister gefordert, sie sehen ihn in der Verantwortung für die Versäumnisse in der landeskirchlichen Fachstelle für sexualisierte Gewalt. | Foto: Jens Schulze

Zuerst kam aus einzelnen Gemeinden Kritik, dann richteten Mitarbeiter der Kirche ernste Worte an ihre Führungsriege und verlangten einen „Kulturwandel“. Nun erneuern Betroffene ihre Forderung nach einem Rücktritt von Landesbischof Ralf Meister, sie dringen damit in den Nachrichten weit nach vorn. Diese Aufwallung ist an sich erst einmal gut, schließlich öffnet sie damit das Blickfeld für eine breite gesellschaftliche Wahrnehmung dessen, was in den Kirchen bis noch vor gar nicht allzu langer Zeit passiert ist – und sie öffnet die Augen für das, was nun geschieht oder geschehen muss. Ein Rücktritt des Landesbischofs erscheint derweil allerdings weder wahrscheinlich noch sinnvoll.

Mit zwei Studien wurde jüngst versucht, die Fälle sexualisierter Gewalt in der evangelischen Kirche zu durchleuchten. Das war zum einen die große „Forum“-Studie im Auftrag der Evangelischen Kirchen in Deutschland (EKD). Diese wurde zurecht dafür kritisiert, dass Anspruch und Wirklichkeit bei der wissenschaftlichen Aufarbeitung weit auseinanderklafften. Die Forscher erhielten nicht die Unterstützung, die sie gebraucht hätten, weil die Kirchen offenbar unterschätzt hatten, wie viele Ressourcen sie die eigene Zuarbeit kosten wird. Die Zahlen dieser Studie sind also mit Vorsicht zu genießen. Die Strukturen, die darin aufgedeckt wurden, sagen aber bereits jetzt viel aus. Es wurde mehr als deutlich, dass es ganz spezifische evangelische Strukturen waren, die den Missbrauch begünstigt und die Aufarbeitung blockiert haben: die dezentralen Strukturen, die starke Rolle des Pfarrers und des Pfarrhauses, das progressive Selbstbild. Die Forscher beklagten eine Verantwortungsdiffusion.

Nun könnte man diesen Vorwurf erneut erheben, wenn andererseits darauf verwiesen wird, dass Landesbischof Ralf Meister über den Umgang mit Fällen sexualisierter Gewalt nicht allein befunden hat. Eine Schuldzuweisung allein an seine Adresse würde aber schlicht die Struktur der evangelischen Kirche verkennen, in der neben dem Landesbischof auch der Bischofsrat, der Personalausschuss, das Landeskirchenamt, der Landessynodalausschuss und die Landessynode mitentscheiden. Zu dieser horizontalen kommt noch eine vertikale Gewaltenteilung, die von der Landeskirche über die Sprengel und Kirchenkreise bis zu den Gemeinden vor Ort führt.

Ralf Meister, Landesbischof der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers, in seinem Büro in Hannover. | Foto: Jens Schulze

Nimmt man die Erkenntnisse der „Forum“-Studie ernst, muss die Verantwortungsdiffusion selbst angegangen und genau geprüft werden, wie diese aufgelöst werden kann. Ein katholisches Verständnis zu imaginieren, wonach der Bischof als Kopf entscheidet und deshalb die Verantwortung allein bei ihm liegt, hilft an dieser Stelle aber nicht weiter. Fraglich wäre auch, wie schnell die Kirche dann in der Lage wäre, die nach einem möglichen Meister-Rücktritt freiwerdende Bischofsstelle neu zu besetzen. Beobachtet man die Vakanzen an anderen Stellen innerhalb der Kirche, drängt sich die Befürchtung auf, dass man nicht gerade Schlange steht, um das Ruder in diesen unruhigen Zeiten zu übernehmen. Zu befürchten wäre zudem, dass Leerstellen in der Kirchenleitung eher von den wahren Aufgaben ablenken könnten.

Tatsächliche Veränderungen sind derweil längst im Gange. Schon lange bevor die zweite wichtige Studie, jene zu den Vorfällen in Oesede (Georgsmarienhütte) in den 1970er-Jahren, veröffentlicht wurde, hat die Landeskirche ihre Fachstelle für Fälle von sexualisierter Gewalt personell aufgestockt. Im Nachgang wurde nun eine erneute Erweiterung sowie eine strukturelle Aufwertung durch das Andocken an den Kirchenamtspräsidenten umgesetzt. Weitere Maßnahmen sollen in Abstimmung mit der EKD und der Diakonie folgen. Zudem setzt die Kirchenleitung jetzt auf Kommunikationsräume, in denen die Mitarbeiter und Ehrenamtlichen der Kirche sich über den richtigen Umgang austauschen. Am Freitag wird die Landessynode das Thema in einer bisher nicht dagewesenen Form behandeln. Meister selbst sucht nun endlich den direkten Austausch mit Betroffenen. Diesen hat er bislang systematisch gemieden. Es kann ihm aber wohl getrost geglaubt werden, dass er dies nicht zum eigenen Schutz getan hat. Vielmehr hielt man es in der Kirche lange Zeit insgesamt für eine auch im Sinne der Betroffenen gute Strategie, diese nicht mit dem hochrangigen Repräsentanten ebenjener Institution zu konfrontieren, in deren Schatten sie einst Missbrauch erfahren haben. Dass man mit dieser Einschätzung falsch gelegen hat und zumindest manche Betroffenen selbst etwas ganz anderes wollen, ist eine wichtige, wenn auch späte Erkenntnis.

All diese Maßnahmen werden eines jedoch nie erreichen: dass die Taten ungeschehen werden, dass die Betroffenen ihr Leid also nie erfahren haben. Auch ein Rücktritt könnte daran nichts ändern.