Stephanie Springer, bis Herbst vergangenen Jahres Präsidentin des Landeskirchenamtes in Hannover, hat sich in einem Buch mit dem Titel „Sexuelle Gewalt gegen Kinder“ mit der Frage befasst, wie die evangelische Kirche mit Missbrauchsfällen in den eigenen Reihen umgeht. Das in der Schriftenreihe der Generalstaatsanwaltschaft Celle herausgegebene Buch ist jetzt veröffentlicht worden – und Springer tritt dort noch in ihrer alten Funktion auf. Sie ist inzwischen in das niedersächsische Justizministerium gewechselt und leitet dort die Abteilung für Justizvollzug.

Springer nennt Faktoren, die Missbrauch begünstigt oder die Aufklärung von Missbrauch erschwert haben – das besondere Vertrauen in den „Ort Pfarrhaus“, die „ultraliberale Reformpädagogik der 1968er Jahre und ihr Gegenstück, die ,schwarze Pädagogik‘ früherer Zeiten“. Springer schreibt über das Personal bei den Kirchen: „Der hohe moralische Selbstanspruch hat oftmals auch bei Mitgliedern der Kirchengemeinden oder Mitarbeitenden wegen der großen Fallhöhe dazu verleitet, ein Versagen kirchlicher Mitarbeitender und das öffentliche Reden darüber quasi für unmöglich zu erklären. Seilschaften und hierarchisches Denken gab und gibt es selbstverständlich auch in der Kirche. Spezifisch evangelisch ist noch eine strukturelle Verantwortungsdiffusion aufgrund von komplexen Gremienstrukturen mit haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeitenden, bei denen etwaige Handlungsfolgen jedoch auf Hauptamtliche beschränkt sind. Schließlich hat auch die verbreitete theologisch begründete Haltung der kategorischen Ablehnung von (selbst funktionalen) Hierarchien eine konsequente Meldung von Fällen sexualisierter Gewalt an die höheren Leitungsebenen erschwert.“
Laut Springer laufen Pfarrer Gefahr, ihre Aufgabenbereiche der Verkündigung und Seelsorge, der Pflege menschlicher Beziehungen und der Leitung der Organisation nicht klar voneinander abzugrenzen. Die Grußformel „Schwestern und Brüder“ begünstige die Verwischung und führe zu Hemmungen in Konfliktsituationen. Da der Begriff „Macht“ negativ konnotiert sei, werde oft die Ausübung der Leitungsfunktion von Pfarrern schlicht geleugnet. Der Beitrag der früheren Präsidentin des Landeskirchenamtes ist deshalb höchst interessant, weil sie mit der Beschreibung einen sehr kritischen Rückblick auf Zustände in der Kirche liefert, in die sie mehrere Jahre lang intensiven Einblick hatte.
Frank Lüttig/Jens Lehmann (Hrsg): Sexuelle Gewalt gegen Kinder, Nomos-Verlag, 2023, Schriften der Generalstaatsanwaltschaft Celle 8, ISBN 978-3-7560-1457-6, 29 Euro.