
Steht die Linkspartei vor einer Spaltung? Seit Monaten wabern Gerüchte durch die Republik, die frühere Bundestagsfraktionschefin Sahra Wagenknecht könne eine neue Partei gründen – und zwar eine, die auch Positionen vertritt, die in vielen anderen Parteien eine Minderheit darstellen und in der AfD teilweise großen Anklang finden. Nun könnte der Konflikt innerhalb der Linkspartei auf niedersächsischem Boden ausgetragen werden, nämlich auf einem Ersatzschauplatz: Es liegt ein Antrag von zwei Linken-Bundesvorstandsmitgliedern vor, den Wagenknecht-Vertrauten Diether Dehm aus der Linkspartei zu werfen. Linken-Parteichef Martin Schirdewan erklärte am Montag, das Ansinnen genieße seine Unterstützung. Dehm war über viele Jahrzehnte die Leitfigur der niedersächsischen Linkspartei, auch schon zu der Zeit, als diese noch die PDS gewesen war. Er hat auf Bundesebene lange Zeit großen Einfluss ausgeübt und steht als starke Figur für den Wahlsieg bei der Landtagswahl 2008, damals war die Linke mit 7,1 Prozent in das Landesparlament gekommen. Bei der diesjährigen Landtagswahl erreichte die Linke gerade mal 2,7 Prozent. Als Folge dieses dramatisch schlechten Ergebnisses kündigte der Landesvorsitzende Lars Leopold (Alfeld) seinen Verzicht auf eine erneute Kandidatur bei der Vorstandswahl im Frühjahr 2023 an. Ob das auch für die Co-Vorsitzende Heidi Reichinnek (Osnabrück) gilt, ist noch unklar.
Leopold und Reichinnek galten lange Zeit als Gefolgsleute von Diether Dehm. In der Partei wird bemerkt, dass die Dehm-feindliche Strömung der „Bewegungslinken“ um Thomas Goes (Göttingen), Christoph Podstawa (Hannover) und Thorben Peters (Lüneburg) an Einfluss gewinnt. Davon unabhängig ist nun die Frage, wie das Landesschiedsgericht über einen – womöglich bevorstehenden – Ausschlussantrag gegen Dehm befinden wird. Dieses Schiedsgericht agiert vom Landesvorstand völlig unabhängig. Beim Landesparteitag am vergangenen Wochenende ist das Schiedsgericht neu gebildet und damit handlungsfähig geworden. Zur gleichen Zeit zitierte das ZDF aus einem Parteiausschluss-Antrag gegen Dehm, der von den Linken-Bundesvorstandsmitgliedern Ates Gürpinar (Bayern) und Kerstin Eisenreich (Sachsen-Anhalt) gestellt worden sei. Nach Rundblick-Informationen liegt dieser Antrag bisher aber weder dem Landesschiedsgericht noch Dehm vor, vermutlich hat das ZDF ihn vorab bekommen. Merkwürdig sind auch die Inhalte: Als Belege für „schweren Schaden“, den Dehm der Linken zugefügt habe, wird eine Äußerung von ihm Ende August in Berlin erwähnt. Es müsse eine Kraft antreten, die dem „Abbruchunternehmen da drüben“ eine Alternative entgegensetzt, hatte er gesagt. Mit dem Abbruchunternehmen soll Dehm das Karl-Liebknecht-Haus gemeint haben, die Parteizentrale der Linken. Schon kurz nach dieser Aussage hatte die Vize-Parteichefin der Linken, Katina Schubert, in einem Interview ein Ausschlussverfahren gegen Dehm verlangt, das „mit Hochdruck“ verfolgt werden müsse. Daraufhin geschah aber mehrere Monate lang nichts, bis jetzt – nach der Komplettierung des Landesschiedsgerichts – ein angeblicher Antrag dem ZDF zugeleitet wurde. Dieser ist inzwischen von der Parteiführung bestätigt worden.
Die Teile dieses Antrags, über die das ZDF berichtet, beziehen sich auf die Rede von Ende August, ebenso auf einige aktuelle Äußerungen von Dehm – und zudem auf viele sehr alte, von denen manche lange zurückliegen. Dabei wird man schnell fündig, da der 72-jährige Politiker rhetorisch gern Grenzen durchaus auch drastisch überschreitet, schon seit vielen Jahren. Schon einmal gab es ein Parteiausschlussverfahren, das scheiterte. Der „schwere Schaden“ für die Partei muss nämlich nachgewiesen werden. Dehm lehnte gegenüber dem Politikjournal Rundblick eine Kommentierung der aktuellen Ereignisse ab, ließ aber erkennen, dass er entschlossen für seine Rechte kämpfen will.
Davon unabhängig ist die Frage, ob eine Spaltung der Linkspartei bevorsteht oder nicht. Wagenknecht und Dehm stehen für bestimmte Positionen, die in der Linken umstritten sind: Dazu gehört die Nähe zu Russland und das Werben für eine Verhandlungslösung zur Beendigung des Krieges, ebenso der Streit um die Rechte der Industriearbeiterschaft und Skepsis gegenüber ungebremsten Flüchtlingsströmen, außerdem die Betonung nationaler Interessen in der Wirtschaftspolitik – hier auch mit Blick auf internationale Lieferketten. Die „Bewegungslinken“ betonen hingegen den Schutz der Minderheiten, werben für Gender-Politik und für Vorkehrungen gegen den Klimawandel, sie suchen auch die Annäherung an die Grünen. Als nicht unwahrscheinlich gilt mittlerweile, dass sich vor der Europawahl im Mai 2024 eine „Liste Wagenknecht“ abspaltet, der erfahrene Wahlkämpfer Dehm könnte dann tatsächlich als ein Motor dafür gebraucht werden – und auf Unzufriedene in den etablierten Parteien zielen. Aushängeschild wäre die immer noch sehr populäre Wagenknecht. Mit Spannung dürfte man dann beobachten, inwieweit frühere Mitstreiter von Dehm dabei mitziehen würden. Der einstige Linken-Landtagsfraktionschef Hans-Henning Adler jedenfalls, ein alter Weggefährte von Dehm, hat jüngst erst von einer Spaltung abgeraten: „Das würde zwei Splitterparteien erzeugen, so wie in Italien“, sagte er.