Wie sich die Ideen-Expo seit 15 Jahren gegen den Fachkräftemangel stemmt
Die Ideen-Expo ist ein niedersächsisches Erfolgsmodell. Alle zwei Jahre kommt die Jugend des Landes auf das hannoversche Messegelände, um sich für Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik begeistern zu lassen. Vor inzwischen 15 Jahren wurde diese Idee geboren – als entscheidendes Instrument gegen den Fachkräftemangel im MINT-Bereich. Was hat sich seitdem getan? Die Rundblick-Redaktion wirft einen analytischen Blick auf die Ideen-Expo. Heute: Der verzweifelte Kampf gegen die MINT-Arbeitskräftelücke.
Es ist Herbst 2007. Die deutschen Bauern fordern einen Milchpreis von 40 Cent. Volkswagen stellt auf der Internationalen Automobil-Ausstellung erstmals seinen „VW Up!“ vor – natürlich noch als Benziner. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) wirbt auf ihrer Asienreise dafür, den Pro-Kopf-Ausstoß von CO2 auch in Schwellenländern zu deckeln. Fotos von Russlands Staatschef Wladimir Putin, der oben ohne und möglicherweise rasierter Brust beim Angeln posiert, gehen um die Welt. Die Niedersachsen gewöhnen sich gerade an das neu eingeführte Rauchverbot in Gaststätten und öffentlichen Einrichtungen. Und in Hannover findet erstmals die Ideen-Expo statt. Die Jugendmesse für Naturwissenschaften und Technik kommt genau zum richtigen Zeitpunkt, denn das Interesse an den MINT-Berufen fällt nach einem zwischenzeitlichen Hoch um die Jahrtausendwende herum allmählich wieder ab.
Fachkräftemangel in MINT-Berufen? 2007 gab es Zweifel
„Das Interesse junger Menschen sowohl an einem Studium als auch speziell an naturwissenschaftlich-technischen Ausbildungsgängen ist in Deutschland problematisch niedrig“, heißt es im Bildungsbericht für das Jahr 2007. Auch der Branchenverband Bitkom und der Verein Deutscher Ingenieure (VDI) warnen eindringlich vor einem Fachkräftemangel und weisen darauf hin, dass zehntausende Ingenieure und Informatiker fehlen. Doch es gibt auch viele Kritiker, die nicht an den Technologie-Boom und den Bedarf nach neuem technischem Fachpersonal glauben.
„Wer den Lockrufen von Bitkom und anderen Lobbyisten blind folgt, könnte böse enttäuscht werden. Zwar droht Unternehmen bei sinkenden Studienanfängerzahlen ein Mangel an Fachkräften – doch in welchem Maße und in welchen Branchen besonders stark, ist kaum absehbar“, heißt es in einem gemeinsamen Artikel von „Spiegel“ und „Manager Magazin“ im Februar 2007. Auch die Bundesagentur für Arbeit sieht die Lage noch gelassen. „Im Ingenieurberuf deuten sich zunehmende Engpässe an. Die aktuelle Debatte von einem dramatischen, allgemein grassierenden Ingenieurmangel ist aber nicht stichhaltig“, bilanziert auch das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung kurz vor der ersten Ideen-Expo.
Von der Leyen: „Wissenschaft ist etwas, das jeder kann“
Dass junge Leute im ersten Jahrzehnt des Jahrtausends grundsätzlich wenig Bock auf Naturwissenschaft und Technik haben, lässt sich bei der ersten Ideen-Expo nicht feststellen. Schon die Premiere verzeichnet 162.000 Besucher. Das Kalkül, dass Jugendliche ihre Altersgenossen besser für MINT-Themen begeistern können als ältere Herren, geht auf. „Wenn man hier die Szenen sieht, wie junge Menschen anderen jungen Menschen etwas erklären und das so spannend aufbereitet wird, dass man glaubt, man wäre bei Harry Potter. Das zeigt, dass Wissenschaft etwas ist, das jeder kann – wenn man es gut präsentiert und wenn die Neugierde und die Motivation wirklich dafür geweckt wird“, sagt die damalige Bundesfamilienministerin Ursula von der Leyen nach ihrem Ideen-Expo-Rundgang. Die neue Ausbildungsmesse trifft den Nerv der Zeit, auch weil sie schon damals ein umfangreiches Show- und Musikprogramm mit bundesweit bekannten Stars vorweisen kann.
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Die Themenfelder heißen damals Mobilität, Energie und Produktion, Kommunikation, Stahl sowie Leben und Umwelt. Schirmherr der Veranstaltung ist zwar Astronaut Thomas Reiter. Doch von einem Themenbereich „Faszination: Weltraum“, wie es ihn 2022 erstmals in Zusammenarbeit mit Airbus und dem Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt auf der Ideen-Expo gibt, können die Veranstalter 2007 nur träumen. Zwar sind auch damals schon große Unternehmen wie die Salzgitter AG, Siemens, Telekom oder Continental bei der Ideen-Expo dabei. Die Premiere findet aber „nur“ im deutschen Pavillon statt. Inzwischen hat sich die Veranstaltungsfläche auf mehrere Messehallen ausgedehnt und vervierfacht. Die Zahl der Aussteller hat sich über die Jahre hinweg von 140 auf 280 verdoppelt.
Die Themen, die die Schüler und Auszubildenden begeistern, sind in 15 Jahren Ideen-Expo aber im Prinzip dieselben geblieben. Digitalisierung, Automation und Nachhaltigkeit stehen bei den Tüftlern nach wie vor besonders im Fokus. So zeigte zum Beispiel schon 2007 eine junge Forschergruppe des Gymnasiums Hittfeld (Landkreis Harburg) ihr Modell eines Containerschiffs, das mithilfe einer Kombination von Solar- und Brennstoffzellen ohne fossile Kraftstoffe fahren kann. „Wir versuchen irgendwas für unsere Umwelt zu tun. Es wird immer wärmer, es gibt Stürme, es gibt Erdbeben – wir müssen jetzt langsam was dagegen tun. Und deswegen sind wir auch stolz, dass wir etwas dazu beitragen können“, erläuterte Schüler Daniel Baasch damals das preisgekrönte Projekt.
Unternehmen reagieren auf Arbeitskräftelücken
Inzwischen hat sich die Zahl der Mitmach-Exponate auf der Ideen-Expo auf 720 verdreifacht. Das liegt auch daran, dass sich die Unternehmen auf der Ausbildungsmesse immer mehr ins Zeug legen, um die Nachwuchskräfte zu beeindrucken. Ein paar Highlights aus diesem Jahr: Die NDR-Azubis präsentieren einen ehemaligen Hörfunkwagen, den sie selbst zum crossmedialen „Ü-Wagen-Light“ aufgemotzt haben, der von unterwegs Online, Hörfunk und Fernsehen gleichzeitig machen kann. Ein Team von VW-Auszubildenden hat große Teile der Karosserie eines E-Golf demontiert, so dass die Messebesucher das gesamte Elektrobordnetz entdecken und alle daran angeschlossenen Verbraucher ausprobieren können. Und die Nachwuchskräfte des Automobilzulieferers ZF zeigen sogar ein völlig autonom fahrendes E-Kart: Die Besucher können einsteigen und sich ohne eigenes Zutun chauffieren lassen. Dabei erkennt das Fahrzeug dank moderner Sensorik sogar plötzlich auftauchende Hindernisse und reagiert entsprechend durch die intelligente Steuerung von Motor, Lenkung und Bremse.
Für Ideen-Expo-Mastermind Volker Schmidt macht das steigende Interesse der Unternehmen deutlich, welche „Problemschwere das Thema Fachkräftemangel mittlerweile erreicht hat“. Tatsächlich ist der Fachkräftemangel, vor dem schon vor 15 Jahren gewarnt wurde, inzwischen eine konstante Größe. Laut dem jüngsten Fachkräfte-Report des Deutschen Industrie- und Handelskammerstags (DIHK) kann mehr als die Hälfte der Unternehmen derzeit ihre offenen Stellen zumindest vorübergehend nicht besetzen. „Wir haben bei den Arbeitskräften den Zenit erreicht. In den kommenden Jahren wird es für die Unternehmen ein immer mühsameres Geschäft, sich gegen die Fachkräfteengpässe zu stemmen“, fasst der stellvertretende DIHK-Hauptgeschäftsführer Achim Dercks die Ergebnisse zusammen. Den stärksten Anstieg der Stellenbesetzungsprobleme berichten dabei die Industrieunternehmen (von 29 auf 53 Prozent). Vor allem qualifizierte Fachkräfte mit bereits abgeschlossener Ausbildung oder Fortbildung werden immer rarer.
Rekord: 320.600 MINT-Arbeitskräfte fehlen im April 2022
Die Zahlen rund um den Fachkräftemangel sind zudem auf einem ganz anderen Niveau als noch 2007. Damals berichtete der Verein Deutscher Ingenieure von 70.000 unbesetzten Ingenieursstellen. Zur vierten Ideen-Expo 2013 fehlten aus Sicht des VDI bereits 95.000 Fachkräfte. Im aktuellen Ingenieurmonitor 2022 verweist der Branchenverband in den Ingenieur- und Informatik-Berufen auf 151.300 offene Stellen, die nicht besetzt werden konnten. Und auch in den anderen MINT-Bereichen wird die Lage immer dramatischer.
„Die MINT-Arbeitskräftelücke steigt auf einen April-Rekordwert in Höhe von 320.600 fehlenden MINT-Arbeitskräften. Die größten Engpässe bestehen in den Bereichen Energie/Elektro und IT“, heißt es im MINT-Frühjahrsreport des Instituts der Deutschen Wirtschaft (IW). Aber auch in den Bauberufen und in den Berufen der Maschinen- und Fahrzeugtechnik gebe es besorgniserregende Engpässe. Anders als noch vor 15 Jahren sind sich die Fachleute heute auch einig, dass dieser Trend fortgeschrieben wird. Für die IW-Experten ist klar: „In den kommenden Jahren werden Demografie, Dekarbonisierung und Digitalisierung größere Auswirkungen auf den MINT-Bedarf in Deutschland haben.“
Dieser Artikel erschien am 16.06.2022 in der Ausgabe #112.
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