Seit über einem Jahr dauert der barbarische Angriffskrieg der Russen auf die Ukraine nun schon an und viele haben sich in dieser Zeit gefragt, ob man nicht früher hätte sehen können, was da auf die Welt zukommt. Einer von ihnen war Prof. Joachim Willems, der sich in seinen Studien an der Carl-von-Ossietzky-Universität Oldenburg viel mit dem Wirken der Russisch-Orthodoxen Kirche (ROK) beschäftigt hat.

Diskutieren beim Hanns-Lilje-Forum (von links): Prof. Joachim Willems von der Universität Oldenburg, Prof. Christoph Dahling-Sander (Geschäftsführer der Hanns-Lilje-Stiftung), Erzpriester Milan Pejic von der serbisch orthodoxen Kirchengemeinde in Hannover, Regionalbischöfin Petra Bahr und Prof. René Dausner von der Universität Hildesheim. | Foto: Jens Schulze

Bei einer Diskussionsveranstaltung der Hanns-Lilje-Stiftung sagte Prof. Willems vor wenigen Tagen in Hannover: „Als der Krieg ausbrach, habe ich mich gefragt: Was hätte ich damals schon sehen können, was habe ich schon gesehen?“ Und tatsächlich war es eine Menge, was Prof. Willems spätestens 2014 schon gesehen hat bezüglich des Wirkens von Kyrill, des Patriarchen von Moskau und der Rus. Allein schon seine Amtsbezeichnung mache deutlich, welche territorialen Ansprüche im Denken Kyrills und der ROK vorherrschten, erläutert der Religionswissenschaftler. Denn die Rus sei mehr als Russland, sie reiche weit darüber hinaus. „Kyrill legitimiert und sakralisiert den Krieg, er gibt den Kurs vor in einer sehr stark hierarchisch organisierten Kirche“, erklärt Prof. Willems. 

Kyrill galt in Anfangsphase als Vermittler

Um die Bedeutung des Patriarchen zu verstehen, muss man gedanklich zunächst einige Jahrzehnte zurückreisen. Als Kyrill zum Patriarchen gewählt wurde, habe man ihn nicht für einen Radikalen gehalten, berichtete Prof. Willems. Er galt als Vermittler zwischen den Nationalisten und den offeneren, an der Ökumene interessierten Kräften seiner Kirche. Doch das hat sich gewandelt, inzwischen hat Kyrill seit Jahren einen festen Platz an der Seite des Putin-Regimes eingenommen. Der Präsident und der Patriarch kennen sich seit der gemeinsamen Zeit beim Geheimdienst KGB und die Kirche hat für Putin eine wichtige Funktion bei der Identitätsbildung des post-sowjetischen Russlands eingenommen.

Prof. Joachim Willems erklärt das Denken Kyrills. | Foto: Jens Schulze

Wie Prof. Willems herausgearbeitet hat, hat das russisch-orthodoxe Kirchenoberhaupt zudem von langer Hand das theologische Rüstzeug für den derzeit gegen die Ukraine laufenden Krieg bereitgelegt. Jahr für Jahr, Predigt für Predigt habe er ein Gedankenkonstrukt errichtet und ausgebaut, das den Angriff auf die Ukraine als apokalyptisches Befreiungsszenario stilisiert und damit zugleich Gräueltaten rechtfertigt oder klein spielt.


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Um dieses Gedankenkonstrukt zu verstehen, muss man mit Prof. Willems noch eine weitere Reise in die Vergangenheit unternehmen. Sie beginnt im Jahr 988, jenem Jahr, das mit der „Taufe der Kiewer Rus“ den Anfangspunkt jenes mittelalterlichen Herrschaftsgebiets bildet, auf das sich der Patriarch noch heute bezieht. Der Großfürst Vladimir habe sich damals auf der Krim taufen lassen, schilderte Prof. Willems. Darin liege die Aussage Putins begründet, dass die Krim für die Russen ein ebenso heiliger Ort wie Jerusalem sei. In der Argumentation von Putin und Kyrill wird das heutige Russland nun mit der mittelalterlichen Rus gleichgesetzt, doch Prof. Willems betonte: „Das stimmt so nicht, aber es wird von Kyrill so ausgelegt.“

„Wer orthodox erzogen wurde, bringt keinen Tod und keine Gewalt.“

Dieser völkische Gedanke von der Rus erkläre auch, so Prof. Willems, wieso eine Verbrüderung der Ukrainer mit dem Westen in Kyrills Denkweise ein Sakrileg sein muss: Dieses Bündnis wird interpretiert als die Zerstörung des eigenen Volkes, als Genozid, den es zu verhindern gelte. Gleichzeitig sieht das Kyrillsche Gedankenkonstrukt keine Expansionspolitik der Russen vor, selbst wenn es sie de facto gibt. Schon 1589 habe nach Ansicht des Patriarchen nicht etwa der Zar Länder im Südosten erobert, sondern der Zar habe sich lediglich einen Schritt vorgewagt und alle Völker seien stets froh darüber gewesen, wenn die Russen ihr Herrschaftsgebiet weiter ausgebreitet hätten. Zudem wird gelehrt: „Wer orthodox erzogen wurde, bringt keinen Tod und keine Gewalt“, referierte Prof. Willems. Es sei damit durch die ROK bereits per Definition ausgeschlossen, dass Russen im Krieg Gräueltaten begingen. Die Massaker von Butscha könne es in dieser Denkweise deshalb gar nicht gegeben haben. 



Zur Selbstwahrnehmung als per se friedlichem Volk gesellt sich dann noch, illustriert von Prof. Willems mit der Jahreszahl 1945, das Selbstbild vom Land, das sich permanent selbst verteidigen muss. Im „großen vaterländischen Krieg“ sei das der Fall gewesen und nun seit 2022 sei es wieder so. Russland befinde sich im apokalyptischen Kampf gegen die „Mächte dieser Welt“, eine Formulierung die wahlweise die Nato oder den Satan meine, erläuterte der Religionswissenschaftler: „Der Kampf wird nicht nur physisch, sondern metaphysisch aufgeladen: Es geht ums Ganze.“ Auch wenn Experten über den Einfluss der Kirche im säkularen Russland streiten, meint Prof. Willems, dass Kyrills Worte durchaus zur allgemeinen Akzeptanz des Krieges in der russischen Bevölkerung beitragen. „Man sollte Kyrills Einfluss nicht unterschätzen. Er bekommt dadurch Einfluss, dass er Putins Propaganda unterstützt und die Quellen dazu liefert.“

Kontakt zur Russisch-Orthodoxen Kirche unterbrechen?

Wie sollen die Kirchen Europas nun auf eine derartige religiöse Aufladung des Krieges reagieren? Petra Bahr, Hannovers Regionalbischöfin von der evangelisch-lutherischen Landeskirche, war eine der ersten, die im vergangenen Jahr gefordert hatte, den Kontakt zur Russisch-Orthodoxen Kirche im Ökumenischen Rat der Kirchen zu unterbrechen. Beim Hanns-Lilje-Forum verteidigte sie diese Haltung nun – machte aber gleichzeitig deutlich, dass es nicht um einen dauerhaften Abbruch, sondern um eine Unterbrechung auf Zeit gehe. Ihre Sorge sei es gewesen, dass die Dominanz der ROK in dem Forum zu groß gewesen wäre.

Unterstützt wird sie in dieser Haltung von René Dausner, Professor für Systematische Theologie an der Universität Hildesheim, der in der Diskussion die katholische Sicht vertreten sollte. Prof. Dausner sagte, man müsse eine Betrachtungsweise wählen: Treten zwei Kriegsparteien gegeneinander an oder gibt es ein Opfer und einen Täter? Für ihn gelte die letztere Betrachtungsweise, weshalb für ihn erstens klar sei, dass man sich auf die Seite der angegriffenen Ukrainer zu stellen habe und woraus sich für ihn zweitens die Haltung ergebe, dass Gespräche mit dem Patriarchen Kyrill nicht mehr geführt werden können.



Der Papst hätte zwar noch versucht, auf Kyrill einzuwirken. Doch dieser habe Gespräche mit dem Papst sofort medial ausgeschlachtet und auch den Weltkirchenrat als Plattform für Propaganda genutzt. Einig sind sich Bahr und Prof. Dausner auch in der Bewertung, dass es geradezu „perfide“ und „pervers“ sei, wie die ROK eine Täter-Opfer-Umkehr betreibe, indem sie sich selbst als Angegriffene inszenierten.

„Man darf als Christ nicht aufhören miteinander zu sprechen.“

Eine Gegenposition zu Bahr und Dausner nahm im Hanns-Lilje-Forum allerdings Erzpriester Milan Pejic von der serbisch-orthodoxen Kirchengemeinde in Hannover ein. „Man darf als Christ nicht aufhören miteinander zu sprechen“, sagte er und drückte seine Sorge darüber aus, dass man ansonsten die Gesprächskanäle erst mühsam wieder aufbauen müsse. „Wir müssen als Christen gemeinsam für den Frieden beten“, appellierte er. Danach gefragt, welche Gesprächskanäle denn nun noch sinnvoll genutzt werden könnten, bezeichnete sich Prof. Dausner selbst als „wenig phantasiereich“. Zuerst müsse der Krieg enden, dann könne es weitergehen, sagte er. Regionalbischöfin Bahr schlug derweil vor, jene in den Blick zu nehmen, die Russland verlassen haben, denn „wer gegangen ist, möchte eigentlich in ein anderes Russland zurück gehen“, ist sie überzeugt. Und auch Prof. Willems verweist auf jene Einzelnen innerhalb der russisch-orthodoxen Kirche, die anders tickten als der Patriarch. Mit denen könne man den Kontakt halten – auch wenn es wenige sind.