Es ist eine rhetorische Frage, die die Duderstädter Ärztin Carola Javid-Kistel in die Menge ruft: „Wenn die Regeln noch schlimmer werden, wird es dann sein wie zuletzt zwischen 1933 und 1945? Werden wir dann mundtot sein und nichts mehr zu sagen haben?“ Applaus ertönt, die Rednerin hat den Nerv der Menge getroffen.

Die 53-jährige Javid-Kistel, die daheim im Eichsfeld einen homoöpathischen Arbeitskreis leitet, gehört zu den elf Akteuren der Bewegung „Wir wachen auf“, die seit zwei Wochen sonnabends in Hannover am Maschsee eine Anti-Corona-Demonstration anführen. Die anderen zehn sind deutlich jünger, und von ihnen sind nur die Vornamen bekannt. Alle Organisatoren geben sich betont offen und liberal, lassen in der Kundgebung am vergangenen Sonnabend, die sich über drei Stunden hinzieht, auch viele spontane Redner ans Mikrophon. „Parteipolitisch unabhängig“ wolle man sein, wird zu Beginn betont.

Ist das nun die Basis einer neuen freiheitlichen Bürgerbewegung – oder doch nur die Ausprägung einer zweifelhaften bundesweiten Protestorganisation, die vor allem in Berlin gegenwärtig ihren Niederschlag findet? Auffällig sind die terminlichen Verzahnungen. Die bundesweite Gruppe, die sich großspurig mit den Titeln „Wir sind die Opposition“ und „demokratischer Widerstand“ beschreibt und über die Internetseite www.nichtohneuns.de kommuniziert, kündigt bundesweite Treffen jeden Sonnabend „um 15.30 Uhr auf dem Weg zu zentralen Plätzen der gesamten Bundesrepublik“ an.

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Dazu passt die hannöversche Aktion. In Berlin wird vollmundig „die Beendigung obrigkeitsstaatlicher Schikanen“ und „die Beendigung des Notstandsregimes“ verlangt, ganz so, als lebten wir in einer Diktatur und nicht in einer Demokratie. Erkennbar werden Versuche, links- und rechtsextreme Strömungen im Protest gegen den Status quo miteinander zu verknüpfen. So wird in einer Publikation der „Zusammenbruch des Finanzmarktkapitalismus“ vorhergesagt und ein gegenwärtiges „Horror-Regime“ beklagt.

„Volksverräter“ und „Lügenpresse“

Diese „Querfront“-Pläne sind in den vergangenen Jahren immer wieder zu beobachten gewesen, ob in Verbindung mit dem Flüchtlingsstrom, dem Islamismus oder vorher auch der Euro-Krise im Zusammenhang mit Griechenland. Wiederkehrende Erscheinungsformen waren die Verächtlichmachung der Politiker und Medien („Volksverräter“ und „Lügenpresse“), eine ausgeprägte Skepsis gegenüber der Zuwanderung und vor allem gegenüber dem Einfluss der Amerikaner. Eine gehörige Portion Gegnerschaft, ja Feindschaft gegenüber dem politischen System der Bundesrepublik war auch immer stets erkennbar.

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Ob „Wir wachen auf“ in Hannover von derlei Radikalismus frei ist, zumal vorn am Stand lediglich gedruckte Ausgaben des Grundgesetzes verteilt werden? Schnell wird in mehreren Redebeiträgen am Maschsee klar, dass sich viele Akteure, von Javid-Kistel angefangen, auf ihre klare Ablehnung einer Impfpflicht konzentrieren. In der Veranstaltung geht eine Unterschriftenliste herum, die sich gegen eine „drohende Zwangsimpfung“ wendet. Eine Heilpraktikerin aus Peine tritt auf, außerdem ein Naturheilkundler namens Uwe, der auch von der Hitler-Diktatur redet: „Wir sind an einem Punkt wie 1933. Wir müssen jetzt aufstehen – oder wir sind verloren!“

Das ist keine Welt, wie ich sie mir wünsche.

Mehrere Vortragende gefallen sich darin, ihre Erlebnisse ausführlich zu beschreiben, wenn sie in diesen Tagen ohne Schutzmaske in den Supermarkt gegangen sind und von Sicherheitspersonal zurechtgewiesen wurden. „Das Ziel ist, dass sich keiner mehr unterhalten soll im Supermarkt“, meint Javid-Kistel. Sie habe einen Wachmann vor ihrem Edeka-Markt gefragt, ob er zur Not auch schießen würde, wenn jemand die Maske nicht trägt und die Regierung eine solche Reaktion von ihm verlangen würde. „Ja“ habe der Mann geantwortet. „Unglaublich“ sei das, empört sich die Ärztin.

Wenig später meint sie noch, es folgten nun bald eine Impfung – „und dann werden wir auch noch gechipt“. „Das ist keine Welt, wie ich sie mir wünsche.“ Sie erkenne einen „dämonischen, teuflischen Plan“ in all dem, was die Bundesregierung gegenwärtig tue. Ein Mann Mitte 50 aus Hildesheim, der sich „Dirk“ nennt, fügt wenig später hinzu: „Eine Maske zu tragen ist Unterdrückung, das macht uns zu Sklaven.“

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Dass hinter derlei Auftritten eine bestimmte Ideologie steckt, eine Geringschätzung des politischen Systems, wird in den Reden so direkt noch nicht deutlich – umso klarer jedoch wird es, wenn man den kleinen Videofilm anschaut, der quasi als eine Einladung im Netz zu den wöchentlichen Treffen im Maschsee kursiert. Dort heißt es: „Die herrschende Klasse benutzt ein Virus, um ganze Bevölkerungsschichten in Angst und Panik zu versetzen.“

Die Rede ist dort von einer „Hightech-Diktatur mit totaler Überwachung und Kontrolle“, sowie von „Mikrochips, die unter die Haut gepflanzt werden“. Eine Frau sagt in diesem Video: „Über Nacht ist Deutschland zu einem Überwachungsstaat geworden.“ Wenn man diese Sätze hört, ist der Unterschied zu ideologischen Systemfeindschaft, wie sie in der Berliner Bewegung durchschimmert, nicht mehr groß.

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Nun kann man indes nicht sagen, dass die rund 350 Teilnehmer der Demonstration am Maschsee allesamt das politische System stürzen wollten. Da sind ganz unterschiedliche Gruppen versammelt. Einige stehen dort stumm und halten das Grundgesetz in die Höhe. Manche tragen Schilder mit einem Zitat, das Bertolt Brecht zugeordnet wird: „Wenn Recht zu Unrecht wird, wird Widerstand zur Pflicht.“ Zwei junge Leute entrollen ein Plakat mit der Aufschrift „Gib Gates keine Chance“ in Anlehnung an „Gib Aids keine Chance“.

Gemeint ist Bill Gates, der sich mit hohem finanziellen Einsatz im Kampf gegen Corona engagiert. Bill Gates taucht noch einmal auf, als gewisser „Lars“ behauptet, der „Spiegel“ habe Millionensummen vom US-Milliardär bekommen und damit seine kritische Wächterfunktion in der Corona-Krise verloren. Von hier bis zum Vorwurf der „Lügenpresse“ ist kein weiter Weg mehr, und der US-Amerikaner Gates eignet sich auch deshalb als Gegner, weil die Ablehnung der USA Leute von weit rechts und solche von weit links zusammenführen kann.


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Dass es in der Demonstration am Maschsee eben nicht nur um Empörung über die Einschränkung der Grundrechte und um Rufe nach Aufhebung der Verbote geht, sondern auch um handfeste Politik, wird ziemlich spät erst deutlich. Die Polizei hat zweimal per Lautsprecherdurchsage die Teilnehmer ermahnen müssen, weil viele demonstrativ keine Maske tragen und auch den Abstand von anderthalb Metern zum Nachbarn nicht einhalten.

In diesem Moment spricht am Mikrophon der Naturheilkundler Uwe auf einmal vom Arzt Bodo Schiffmann aus dem baden-württembergischen Sinsheim, der ja eine neue Partei gründen wolle. „Schon zehntausend neue Mitglieder soll er jetzt haben“, ruft Uwe. Es klingt wie ein Aufruf zum Beitreten. (kw)