Wie die Bannmeile den Landtag in den Bann zieht
In vielen Sachfragen sind die Unterschiede zwischen den etablierten Parteien nur klein, in anderen muss man sie suchen. Aber dann erlebt man im Landtag auch wieder Debatten, in denen gleich ganze Weltanschauungen aufeinander prallen. Trotzdem, wie auch gestern wieder, können die Politiker voller Respekt darüber streiten – in gegenseitiger Achtung und Wertschätzung.
Das Thema war das neue Versammlungsgesetz, das Rot-Grün gestern mit der Einstimmenmehrheit im Parlament gegen CDU und FDP durchgesetzt hat. Einige Details sind sachlich umstritten – so die rot-grüne Änderung, nach der eine Vermummung von Demonstranten künftig keine Straftat mehr ist, sondern nur noch eine Ordnungswidrigkeit. Oder die Neuerung, dass Leiter von Demonstrationen nicht mehr ihre Adresse mitteilen müssen, sondern nur noch eine Anschrift, unter der sie postalisch erreichbar sind.
„Das machen Sie alles, weil mancher Grüne eine heimliche Sympathie für die linken Demonstrationen in Göttingen hegt“, mutmaßt Thomas Adasch (CDU). „Das ist Unsinn“, entgegnet Julia Hamburg (Grüne). Die Änderung stärke den Datenschutz und passe sich, was das Vermummungsverbot angeht, der polizeilichen Praxis an. Viel tiefgehender aber sind die Meinungsunterschiede in einer anderen Frage dieses Gesetzes, der Abschaffung der Bannmeile. Hier kommt es in der Landtagssitzung zu einem fast schon philosophischen Schlagabtausch.
Die Bannmeile, auch „befriedeter Bezirk“ genannt, ist ein Areal rund um Landtag, in dem ursprünglich nicht demonstriert werden durfte. Vor vielen Parlamenten in Deutschland gibt es solche Bannmeilen, sie gehen auf das vergangene Jahrhundert zurück und sollen sicherstellen, dass frei gewählte Abgeordnete bei ihrer Arbeit im Parlament „nicht dem Druck der Straße“ ausgesetzt sein sollten. Die Bilder von protestierenden Nazis in der Endphase der Weimarer Republik, die alle andersdenkenden Reichstagsmitglieder einschüchtern wollten, sind überliefert.
In Niedersachsen ist die Bannmeile vor dem Landtag vor sieben Jahren entschärft worden. Nach derzeitigem Recht sind Demonstrationen dort erlaubt – in Ausnahmefällen kann aber der Landtagspräsident im Einvernehmen mit der Polizei eine Kundgebung untersagen, falls diese zu Störungen des Parlamentsbetriebs führen könnte.
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Nun hat Rot-Grün diese Ausnahmeregel gekippt: Künftig soll generell jede Demonstration bis direkt vor dem Eingang des Landtags erlaubt sein. Ein Einspruchsrecht des Landtags selbst entfällt. Aber ist das auch sinnvoll? Jan-Christoph Oetjen (FDP) bezweifelt das. Ja, in den zurückliegenden fünf Jahren gab es keinen Anlass, irgendeine Kundgebung zu untersagen. „Doch wir machen solche Gesetze nicht nur für Zeiten ohne Probleme“, betont Oetjen. Landtagspräsident Bernd Busemann (CDU) sieht es ähnlich. „Was geschieht, wenn es zu einer Eskalation kommt? Wir geben jetzt eine Vorschrift aus der Hand, die wir dann vielleicht brauchen. Aber später könnten wir in der Verlegenheit sein, sie dann unter Druck wieder einführen zu müssen.“
Busemann spricht vom „hohen Gut“ des Paragraphen zwei des Abgeordnetengesetzes: Niemand, heißt es dort, dürfe an der Ausübung seines Mandats gehindert werden – darunter müsse man auch das Recht verstehen, unbeschimpft und unbehelligt den Landtag betreten zu können. Das sei kein Privileg, sondern „die Grundvoraussetzung der Arbeit im Landtag“. Ohne die bisherige Bannmeilenregel, so fürchtet Busemann, gebe die Politik die Verantwortung „an die Polizei ab“. Denn dann obliege es dem jeweiligen Einsatzführer der Polizei, ob er eine Demonstration vor dem Landtag, die womöglich in Aggressivität ausartet, kurzfristig verbietet und auflöst.
Die Gegenposition zu Busemann nimmt der SPD-Abgeordnete Michael Höntsch aus Hannover ein. Er sei schon oft an Orten vorbeigekommen, sagt Höntsch, an denen Anschläge verübt wurden. Trotzdem bewege er sich weiter frei und offen. „Wir müssen gerade jetzt, in Zeiten des Terrorismus, streng darauf achten, dass die Menschen nicht vor lauter Furcht erstarren. Wir können nicht alle offenen Plätze zumauern – und selbst wenn wir es täten, dann blieben die Vorstädte und kleinen Gemeinden ein nicht zu schützendes Ziel.“
Der SPD-Politiker rät, „das Klima der Angst nicht durch eigenes Verhalten zu befördern“. Auch künftig sollten die Abgeordneten mit genügend Selbstbewusstsein und Selbstvertrauen auftreten, ergänzt Höntsch und zitiert den damaligen norwegischen Ministerpräsidenten Jens Stoltenberg nach dem Mordanschlag des Rechtsextremisten Anders Breivig 2011 in Oslo und auf der Insel Utoya: „Unsere Antwort auf die Gewalt ist mehr Demokratie, mehr Offenheit und mehr Menschlichkeit.“
Diese Haltung setzt sich am Ende knapp durch im Parlament, vorher hat Jens Nacke (CDU) aber Höntsch noch vorgehalten, dass er zwar von der Vorbildfunktion der Politiker rede, am Ende das Problem aber auf die Polizei abwälze. Auch Innenminister Boris Pistorius meldet sich kurz zu Wort und nennt die Debatte über die Bannmeile „reichlich übertrieben und emotionalisiert“. Damit überrascht er das Plenum, denn noch vor ein paar Monaten hatte Pistorius angekündigt, sich hier zurückhalten und die Frage allein den Landtagsabgeordneten überlassen zu wollen. Er tut es dann doch nicht. (kw)