Die Tat schockierte bundesweit: In der Nacht zum Ostersonntag dieses Jahres ersticht ein junger Mann in Hannover eine junge Frau. Er kennt sie nicht, ist ihr noch nie zuvor begegnet. Zwei Tage später ist auch sein bester Freund tot, der Mann hat plötzlich auf ihn eingestochen, als beide auf einer Parkbank sitzen. Wie später bekannt wird, ist der Mann Syrer und kam 2014 als Flüchtling nach Deutschland. Von außen betrachtet ist Mullham D. ein Musterbeispiel für gute Integration. Er ist fleißig, spricht gut Deutsch und studiert seit 2015 an der Leibniz-Universität Elektrotechnik. Doch innerlich sah es offenbar in dem 25-Jährigen ganz anders aus. Seinem Anwalt vertraut er an, er habe sich ständig verfolgt und bedroht gefühlt. Auch von der jungen Frau, die er doch gar nicht kannte. Polizei und Staatsanwaltschaft ermitteln noch, doch auch sie gehen davon das, dass ein psychischer Kollaps den jungen Mann zum Mörder werden ließ.
Der Fall offenbart auf grausame Weise ein Problem, das häufig ausgeklammert wird, wenn über die Integration von Flüchtlingen gesprochen wird. Man redet über Sprachkurse, über Arbeitserlaubnisse, Bürokratie und Engagement. Doch der seelische Zustand der Neuankömmlinge spielt in der öffentlichen Debatte selten eine Rolle. „Dabei sind viele Menschen darunter, die aus Bürgerkriegsländern kommen, monatelang auf der Flucht waren und oft Unmenschliches gesehen haben“, sagt Karin Loos. „Nicht wenige von ihnen sind traumatisiert, wenn sie hier ankommen.“ Loos ist Geschäftsführerin des Netzwerks für traumatisierte Flüchtlinge in Niedersachsen (NTFN). Ein Verein, der sich schon seit mehr als zehn Jahren für die seelische Behandlung von Geflüchteten einsetzt und unter anderem vom Sozialministerium und der Europäischen Union gefördert wird. Denn Psychotherapie und psychologische Betreuung für Flüchtlinge sind nicht bloß Gutmenschentum. „Die Gesellschaft muss auch ein Eigeninteresse daran haben.“ Zum einen kostet die Behandlung von chronischen Trauma bei anerkannten Flüchtlingen viel Geld, zum anderen verhindert eine frühzeitige Behandlung, dass Traumatisierte – wie Mullham D. – zu Tätern werden.
Loos‘ Büro liegt im dritten Stock einer Altbauwohnung in der Marienstraße. Plakate mit Wohlfühlsprüchen zieren die Wände, in den Regalen stehen Bücher und Krimskrams. Durch das Fenster blickt man auf Bäume. Es ist ein freundlicher Ort. Einer, an dem es leichter fällt, über die Schrecken im Kopf zu reden, als in einer sterilen Arztpraxis. Und der Bedarf zum Reden ist da. 917 Flüchtlinge hat das NTFN im vergangenen Jahr betreut, mit 519 waren mehr als die Hälfte davon Neuaufnahmen. Im Vorjahr waren es nur 383 Neuaufnahmen gewesen. Von den neuen Patienten waren 61 Prozent Männer und 39 Prozent Frauen, 26 Prozent von ihnen waren unter 18 Jahre alt. Interessanterweise sind Syrer nicht die größte Gruppe unter den Menschen, die im Netzwerk betreut werden, sondern Afghanen. 129 der Hilfesuchenden kamen aus diesem Land. Hinter Syrien mit 80 Menschen folgt der Irak, von hier stammen 52 Hilfesuchende.
Es ist aber davon auszugehen, dass noch weit mehr Menschen unter den Flüchtlingen in Niedersachsen sind, die Traumatisches erlebt haben und eigentlich Beratung oder ärztliche Hilfe bräuchten. „Als die Flüchtlinge in Massen kamen, gab es teilweise nicht einmal Gesundheitschecks, geschweige denn eine Überprüfung des seelischen Zustands“, sagt Loos. Nur in den Erstaufnahmeeinrichtungen in Friedland und Braunschweig stellten Sozialarbeiter Fragen zum psychischen Befinden der Neuankömmlinge. In Friedland etwa gibt es seit Jahren eine Kooperation mit der Göttinger Asklepios-Klinik.
Stellen Sozialarbeiter fest, dass ein Flüchtling Anzeichen für eine psychische Störung zeigt, bekommt er drei Untersuchungen bei einer Psychologin, die Erstaufnahmeeinrichtung stellt den Dolmetscher. Die Ergebnisse der Untersuchung werden an die Erstaufnahmeeinrichtung und nach Absprache auch an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) weitergeleitet. „In den anderen Aufnahmezentren in Niedersachsen fängt man dagegen gerade erst an, Fragen zur psychischen Gesundheit zu stellen“, sagt Loos. Ihr Netzwerk setzt sich deshalb dafür ein, einen standardisierten Fragebogen in allen Aufnahmezentren anzuwenden. „Haben Sie häufig Albträume?“, „Werden Sie schnell wütend?“ oder „Vergessen Sie häufig Dinge im Alltag?“ Mit simplen Fragen wie diese sollen die Sozialarbeiter Hinweise auf mögliche Traumata bekommen, ohne den Flüchtling dazu drängen zu müssen, sein Seelenleben einem Fremden offenbaren zu müssen. „In den Niederlanden wird dieser Fragebogen schon erfolgreich angewandt.“
Doch es gibt noch mehr strukturelle Probleme. „Bei vielen zeigen sich die psychischen Probleme erst nach Wochen oder Monaten“, sagt Raimund Dehmlow, Beauftragter für Flüchtlingsfragen bei der Ärztekammer Niedersachsen. Wer dann die Behandlung bezahlt, ist nicht geregelt. „Die Sozialbehörden schieben das untereinander herum, die Kassen tun sich schwer mit der Kostenübernahme und der Patient kann es nicht bezahlen“, erläutert Dehmlow. Dazu kommt das Dolmetscherproblem. Es ist nicht geklärt, wer in welcher Phase des Aufenthalts den Übersetzer bezahlt. „Auch hier muss es klare Zuständigkeiten geben, sonst funktioniert die Behandlung nicht“, fordert Dehmlow. „Die Landesregierung sieht den Bedarf und Angebote wie unseres werden gefördert“, fügt Loos hinzu. „Aber wir brauchen eine geregelte Kostenübernahmestruktur.“
Die ungleichmäßige Verteilung von Hilfsangeboten in Niedersachsen gilt aus drittes Problem. Hannover als Landeshauptstadt bietet mehrere Hilfsangebote, doch im Emsland oder im Harz gibt es kaum Anlaufstellen. „Dabei sind die Therapeuten da“, sagt Loos. Doch sie dürfen nur unter ganz bestimmten Umständen Flüchtlinge ehrenamtlich behandeln. „Die Kriterien dieser Ermächtigung sind so eng gefasst, dass kaum ein Flüchtling sie erfüllt“, sagt Loos. Für sie und Dehmlow sind das Probleme, die sich durch engere Absprachen leicht lösen ließen. „Die Flüchtlingskrise hat schon jetzt Behörden zusammengebracht, die sonst nie Hand in Hand arbeiten würden“, sagt Dehmlow. (isc)Dieser Artikel erschien in Ausgabe #117.