6. Mai 2020 · Bildung

Was liest man in der Corona-Krise?

Seit ein paar Wochen arbeitet Sofie Rieskamp im zweiten Stock der Buchhandlung „Bültmann & Gerriets“ in der Oldenburger Innenstadt. Als es im Laden unten still geworden war, tobte hier oben das Hauptgeschäft. Die Auszubildende bearbeitet dort die Online-Bestellungen und hat damit jede Menge zu tun, fast im Akkord packt sie Bücher ein und verschickt sie per Kurier. „Insgesamt werden mehr Bücher gekauft“, meint Rieskamp und ist mit dieser Einschätzung nicht allein.

„Ich hatte das Gefühl, die Leute waren richtig ausgehungert. Fast am Verdursten waren einige, weil sie nicht herkommen konnten“, erzählt Niels Voges, der nicht etwa eine Gaststätte betreibt, sondern in Hildesheim in „Amei’s Buchecke“ Literatur unters Volk bringt. Auch Mechthild Röttering von der „Buchhandlung Rote Straße“ in Göttingen hat den Eindruck, dass jetzt jede Menge Bücher gekauft werden. „Viele sagen, dass sie nun endlich wieder zum Lesen kämen“, berichtet sie. Mit langen Listen komme die Kundschaft mitunter in ihren kleinen Laden, voll mit Büchern, denen man sich nun endlich widmen könnte.


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Der Buchhandel boomt also, selbst in der Krise. Doch was lesen die Leute? Nach welchen Titeln fragen sie gezielt und welche Werke präsentieren ihnen die Händler in dieser Ausnahmesituation? Auf einem Streifzug durch die Bücherwelten Niedersachsens sind dabei ganz unterschiedliche Befunde zu Tage getreten. Doch was die meisten Buchläden eint, ist zunächst die gestiegene Nachfrage nach Kinder- und Jugendliteratur. „Die Eltern kaufen ihren Kindern wieder Kinderbuchserien“, erzählt etwa Dirk Eberitzsch von „Leuenhagen & Paris“ auf der Lister Meile in Hannover. „Manche merken jetzt, dass es nur mit dem Handy eben auch nicht geht, und entdecken das Buch wieder.“

Ebenfalls nachgefragt sind Spiele und Puzzle, die natürlich auch in vielen Buchläden zu finden sind. „Ich habe ganz viele Mal- und Rätselbücher eingepackt und alles, womit man Kinder beschäftigen kann“, erzählt auch Sofie Rieskamp aus Oldenburg. Ratgeber, die den verzweifelten Eltern Tipps geben, was sie mit den Kleinen machen könnten, entwickelten sich in der langen Phase, in der die Schulen und Kindergärten geschlossen waren (und mitunter noch sind), ebenfalls zu richtigen Bestsellern.

Das Sachbuch selbst erlebt eine Renaissance.

Nach Beschäftigungsideen suchen aber nicht nur Eltern für ihre Kinder, wie Eberitzsch beobachtet hat, sondern auch viele Erwachsene für sich selbst. Viele Beschäftigungsbücher habe er verkauft – Kochen, Stricken, Gartenarbeit, das sei gerade angesagt. Überhaupt erfahren die Fach- und Sachbücher eine besonders große Nachfrage, weiß der hannoversche Bundhändler zu berichten. Er meint, das sei ein typisches Krisenphänomen. Dabei gehe es zumindest bei seiner Kundschaft nicht vordergründig um spezielle Corona-Literatur, sondern auch um Wirtschaft oder ums körperliche und seelische Wohlbefinden.


https://soundcloud.com/user-59368422/unser-gesundheitssystem-kann-eine-zweite-welle-verkraften

„Das Sachbuch selbst erlebt eine Renaissance“, sagt Eberitzsch. Wonach die Leute nun suchen, seien Bücher, die die Welt erklären können: „Unsere Welt neu denken“ von Maja Göpel gehöre dazu, genau wie alle drei Bücher von Yuval Noah Harari („Eine kurze Geschichte der Menschheit“, „Homo Deus“ und „21 Lektionen für das 21. Jahrhundert“) oder die Sinnsucher-Bücher von John Strelecky („Das Café am Rande der Welt“). Diese Bücher stellt Eberitzsch zurzeit auch gerne im Schaufenster aus: Die Suche nach dem Sinn des Lebens neben Ratgebern zur Umgestaltung des Gartens. Was man dort zurzeit aber auf keinen Fall finden wird, sind Reiseführer.

Woher kommt das Interesse an den alten Seuchen-Klassikern?

Die Krise verändert die Auslage der Buchhandlung. Aber gibt es auch eine spezielle Corona-Ecke? Die meisten Händler haben bei dieser Frage abgewinkt. In „Amei’s Bücherecker“ in Hildesheim liegt ein bisschen Corona-Fachlektüre im Kassenbereich, ein einziges Buch dazu hat Niels Voges neulich mal verkauft: „Schutz vor Infektionen: Immunkraft steigern – natürlich und nachhaltig“ vom Homöopathen Rüdiger Dahlke. Bei „Bültmann & Gerriets“ in Oldenburg gibt es kleine Corona-Handbücher und Heftchen für die Laufkundschaft. Alles nichts, was Sofie Rieskamp auf Bestellung einpacken müsste.

Vielleicht suchten die Leute eine Verbindung zu etwas, das schon mal dagewesen ist.

Doch in einem Laden wird man fündig, wenn man die Corona-Auslage sucht: Die „Buchhandlung Graff“ in Braunschweig hat eine extra Corona-Ecke eingerichtet. Schon vor Wochen habe sie das gemacht, erzählt Monika König, noch bevor der Laden vorübergehend für Kundschaft geschlossen werden musste. Das Angebot sei sehr gut angenommen worden, sagt sie. Auf dem Tisch finden sich allerlei medizinische Sachen, ein Buch über die Notfallmedizin etwa. Es gibt aber auch „1918. Die Welt im Fieber“ von Laura Spinney, „Die Liebe in Zeiten der Cholera“ von Gabriele García Márquez und natürlich „Die Pest“ von Albert Camus. Weil die Nachfrage nach dem Camus-Werk von 1947 vor einigen Wochen rapide gestiegen war, musste das Buch sogar nachgedruckt werden.

Woher kommt nur das Interesse an diesen alten Seuchen-Klassikern? Niels Voges, der zu Beginn der Pandemie einen Zehner-Stapel der „Pest“ gekauft hatte, kann die plötzliche Nachfrage nicht ganz verstehen. „Vielleicht suchten die Leute eine Verbindung zu etwas, das schon mal dagewesen ist“, sagte er. „Aber das ist ja wirklich eine Untergangsstimmung, ein extrem düsteres Buch. Ich hätte das jetzt nicht lesen wollen.“ Voges mutmaßt, das Buch werde bei vielen nun ungelesen im Bücherregal herumliegen, wenn sie erstmal merken, was sie sich da geholt haben. Auch Monika König aus Braunschweig zweifelt daran, dass viele Leser ihre Freude mit der Lektüre haben werden. „Ich glaube, das ist nur von den Medien angeheizt“, stimmt sie in die Suche nach dem Grund für diesen sonderbaren Trend ein. Natürlich habe jeder Buchhändler den Klassiker gelesen, sagt sie. Doch dass der sich aktuell besonders anbietet, findet auch sie nicht.

Die Leute wollen etwas für die Seele, eher leichte und positive Literatur.

Ein Buchladen, in dem man „Die Pest“ zurzeit wohl vergeblich suchen würde, ist die „Buchhandlung an der Marktkirche“ in Hannover. Karin Dörner, die Inhaberin, kennt zwar all diese Corona-Trends und weiß auch, was bald erscheinen wird. Vor kurzem erst ist zum Beispiel „In Zeiten der Ansteckung: Wie die Corona-Pandemie unser Leben verändert“ von Paolo Giordano veröffentlicht worden, und bald kommt „Virus. Die Wiederkehr der Seuchen“ von Nathan Wolfe hinzu. Auch „Quarantäne. Eine Gebrauchsanweisung“ von Anselm Grün sei derzeit ein beliebter Ratgeber, wie sie zu berichten weiß.

Dörner meint jedoch, dass die Leute Corona inzwischen satthaben müssten. „Ich kann’s gerade nicht mehr hören“, gesteht sie. Eine spezielle Corona-Auslage möchte sie deshalb in ihrem Laden nicht aufbauen. Im Gegenteil: Bei ihr findet man eine bewusst gewählte Anti-Corona-Auslage. Achtsamkeit, Wirksamkeit, Yoga und Spiritualität heißen ihre Alternativen. „Die Leute wollen etwas für die Seele, eher leichte und positive Literatur“, meint die erfahrene Buchhändlerin und versichert aber, dass sie bei Nachfrage natürlich auch ein Corona-Buch dahabe oder zumindest schnell beschaffen könnte, wenn es denn sein muss.

Von Niklas Kleinwächter

Dieser Artikel erschien in Ausgabe #086.
Niklas Kleinwächter
AutorNiklas Kleinwächter

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