23. Juni 2024 · 
Parteien

Warum Pannen und Fehler bei Auszählungen gar nicht so selten sind

Hauchdünne Wahlergebnisse sind heute keine Seltenheit mehr. Manchmal sind es wenige hundert Stimmen, um die eine Partei den Einzug ins Parlament verpasst – weil sie die Fünfprozenthürde nicht reißt. Eine wichtige Empfehlung sei an alle gegeben: Man sollte nachzählen, zur Not auch mehrfach. Vor genau 50 Jahren gab es nämlich in Niedersachsen eine großangelegte Fallstudie zu der Frage, wie häufig bei der Auszählung von Stimmen bei Wahlen Pannen passieren.

Foto: Stadt Herborn

Der Antrieb kam damals nicht aus der Wissenschaft, sondern aus der Politik – ein äußerst knappes Wahlergebnis der Landtagswahl, das sich erst nach einer Nachwahl im Wahlkreis Northeim herausstellte, weckte Zweifel. Es wurde in Northeim nachgezählt, prompt tauchten Unregelmäßigkeiten auf. Als an anderen Orten weitere Fehler bekannt wurden, ordnete der damalige Landeswahlleiter Claus Henning Schapper die landesweite Nachzählung der Landtagswahl vom Juni 1974 an.

Die Landtagswahl 1974 war in ein aufgeregtes Umfeld eingebettet. Kurz vor dem Termin im Juni war Kanzler Willy Brandt zurückgetreten, die SPD scharte sich um Helmut Schmidt. Die CDU wittere zwei Jahre nach der großen Niederlage bei der Bundestagswahl die Chance für die Revanche, die SPD Niedersachsen befand sich in einem Umbruch, da Ministerpräsident Alfred Kubel schon als amtsmüde galt. Das Ringen zwischen Linken und Traditionalisten in der SPD war mancherorts, etwa in Hannover, stark ausgeprägt. Parallel zur Landtagswahl waren an einigen Orten Kommunalwahlen, denn die ersten Schritte der Gemeinde-Gebietsreform waren schon geschehen, es mussten dort neue Volksvertreter bestimmt werden.

Quelle: Ebay

Das alles markiert eine sehr aufgeregte Stimmung, die Wahlen fielen in eine Zeit des Umbruchs. Landesweit waren 50.000 ehrenamtliche Helfer in mehr als 7000 Wahllokalen eingesetzt, und sie standen am Abend des 9. Juni 1974 unter dem Erwartungsdruck, möglichst rasch ihre Resultate zu melden. Wie das ablief, ist viel später anhand der von Schapper angewiesenen Kontrollzählungen deutlich geworden, und im Wahlprüfungsausschuss des Landtags wurden die Vorgänge danach noch einmal ausgebreitet. Die Protokolle mehrerer Sitzungen liefern einen Eindruck, wie gravierend die Pannen waren:

Mehr als 2000 Zählfehler

Im Ausschuss wurde mitgeteilt, dass es in lediglich einem Wahlkreis keine Zählfehler gab, in allen anderen schon. Das geschah meistens so, dass bei der Auszählung die Stimmen in 5er oder 10er Packs gestapelt wurden, dann aber beim Zusammenzählen ein Fehler geschah oder die Stimmen einer falschen Partei zugeordnet wurden. Mehrfach wurde zudem versäumt, zunächst die Zahl der Stimmzettel in der Urne zu zählen und dann erst anschließend die Stimmvermerke im Wählerverzeichnis. Beide mussten übereinstimmen. In der Eile haben Wahlvorstände aber sofort mit der Auszählung begonnen und eine Abweichung gar nicht mehr bemerkt. In Wolfenbüttel wurden 20 Stimmen vergessen, 13 einem falschen Stapel zugeordnet. In Osnabrück sind 20 SPD-Stimmen versehentlich auf den CDU-Stapel gelegt worden.

Mehr als 500 „Problemfälle“

Wann ist eine Stimme ungültig, wann nicht? Der Wille des Wählers muss eindeutig erkennbar sein – und die Entscheidung darüber trifft der Wahlvorstand während der Auszählung. Die Überprüfung der Stimmzettel ergab überschlägig folgendes Bild: 13-mal gab es neben dem angekreuzten Bewerber noch Kritzeleien auf dem Stimmzettel oder andere Namen wurden durchgestrichen. 23-mal wurde nicht der Kreis hinter dem Namen angekreuzt, das Kreuz kam an andere Stelle.

138-mal sind mehrere Namen angekreuzt worden, 113-mal wurde versucht, das Kreuz mit Radiergummi oder Spucke wieder zu verwischen, 89-mal wurde ein Name angekreuzt und ein anderer durchgestrichen, 24-mal wurden Bemerkungen wie „toi, toi, toi“, „Schweine“ oder „Für den Wiederaufbau der KPD“ auf den Stimmzettel geschrieben. Dreimal wurde ein Hakenkreuz aufgemalt, viermal haben Wähler zwei Stimmzettel abgegeben (weil ihnen wohl versehentlich zwei ausgehändigt worden waren), 39-mal wurden die Stimmzettel in einen falschen Umschlag gelegt, einmal wurde ein Muster-Stimmzettel verwendet.



Das Altenheim in Löningen

In Löningen entschied der Cloppenburger Oberkreisdirektor, ein eigenes Stimmlokal für ein Altenheim einzurichten. Dort hatten 60 Wähler ihre Stimme abgegeben, 58 für die CDU und zwei für die SPD. Die Urne sollte dann zu einem anderen Stimmbezirk gefahren und im dortigen Wählerverzeichnis aufgenommen werden. Als sie dort angeliefert wurde, war die dortige Auszählung aber schon beendet, und prompt wurde vergessen, die Ergebnisse aus dem Altenheim noch einmal in der Niederschrift des Wahllokals nachzutragen. Erst bei der Kontrollzählung fiel die Panne auf.

Verwischte Spuren in Gifhorn

In den Gemeinden Rötgesbüttel und Lagesbüttel im Kreis Gifhorn scheiterte die Nachzählung daran, dass die Stimmzettel nach der Auszählung am 9. Juni verbrannt wurden – obwohl das nie hätte passieren dürfen. Vorgeschrieben ist nämlich, dass man diese aufheben muss.

Wahllokale in den Gaststätten

Im Wahlprüfungsausschuss war von „menschlichen Fehlern“ die Rede und davon, dass viele Wahlhelfer wohl überfordert waren. Zu jener Zeit waren die Wahllokale noch in den Gaststätten, es gab teilweise Sammelbüchsen – und nicht wenige Wähler bedankten sich bei den Helfern, indem sie eine Runde Schnaps spendierten. Manche Wahllokale waren nur dadurch erreichbar, dass man an der Theke vorbei ging. Da hatten nicht zuletzt auch die Gastwirte ein Interesse daran, dass den Wahlhelfern eine gemütliche Atmosphäre geschaffen wurde. Dies hat sich erst Jahre später landesweit geändert. In den siebziger Jahren war es noch nicht üblich gewesen, Wahllokale in Schulen oder anderen öffentlichen Gebäuden einzurichten – heute ist das üblich. Auch das Verbot von Alkoholgenuss wurde damals noch nicht streng genommen.

Die vergessene Pannen-Wahl

Das politische Geschäft ist schnelllebig, und so sind die Ereignisse der Landtagswahl von vor einem halben Jahrhundert heute in Vergessenheit geraten. Allerdings stößt man auf diese Geschichte, wenn man in die Wahlstatistik schaut. Die Sitzverteilung, die nach der Northeimer Nachwahl festgestellt worden war und die Basis war für die Wiederwahl von Alfred Kubel zum Ministerpräsidenten im Landtag, änderte sich später – da der Wahlausschuss das strittige letzte Mandat der CDU zusprach und der SPD wieder entziehen musste. Ein solcher Vorgang war in der Geschichte Niedersachsens einmalig, und blieb es bis heute auch.

Dieser Artikel erschien am 24.6.2024 in Ausgabe #115.
Klaus Wallbaum
AutorKlaus Wallbaum

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