Der „Schüttenhoff“ ist ein historisches Volksfest in Bodenfelde (Kreis Northeim), ganz im Süden Niedersachsens. Immer dann, wenn das in diesem Weserort gefeiert wird, tragen Bürger historische Uniformen, ziehen mit Marschkapellen durch das Dorf, liefern sich sogar Schaukämpfe. Das ist schön anzusehen, und im Internet gibt es auch noch einen Film, der diesen Umzug aus dem Jahr 1974 zeigt. Das war zu Pfingsten, es herrschte wunderschönes Sommerwetter, der „Schüttenhoff“ feierte 300 Jahre. Die politische Dramatik, die hier in diesen Tagen ihren Ausgangspunkt nahm, ist kaum zu erahnen. Am Pfingstmontag, dem 3. Juni 1974, war auch der Landtagsabgeordnete Günter Ludwig (CDU) Besucher des „Schüttenhoff“. Für ihn war das ein Pflichttermin, gerade jetzt, sechs Tage vor der Landtagswahl.

Am frühen Abend verließ Ludwig das Fest, begab sich offenbar auf den Heimweg in seinem schwarzen Mercedes. Zwischen Emmenhausen und Harste, auf der Landesstraße 554, muss er um etwa 19.30 Uhr in einer Kurve zu schnell gefahren sein. Der Wagen kam gegen einen Leitpfahl, schleuderte auf die Gegenseite, rutschte in einen Graben und stieß gegen den gemauerten Übergang eines Feldweges. Vermutlich war Ludwig nicht angeschnallt, er soll an den schweren inneren Verletzungen sofort gestorben sein.

Für die CDU war das ein Schock, denn der 49-jährige Ludwig war der Multi-Funktionär der Gegend – Landtagsabgeordneter, Kreisvorsitzender der CDU, Chef der Kreistagsfraktion. „Er war ein sehr engagierter und geselliger Mensch“, erinnert sich Joachim Stünkel, der ihn damals im Wahlkampf als Mitglied der Jungen Union erlebt hat. „Lebenslustig, zugewandt und immer freundlich“, sei Ludwig gewesen, berichtet Dietrich Stratmann, der ihn damals als Kreisvorsitzender beerben musste.
Der Schock über das Unglück mischte sich ziemlich schnell mit einer dumpfen Erkenntnis in Hannover: Da Niedersachsen zu dieser Zeit nur ein Ein-Stimmen-Wahlrecht hatte, es aber sechs Tage vor dem Wahltag für die Nachnominierung im Wahlkreis Northeim zu spät war, gab es nur eine Konsequenz: Die Northeimer durften am 9. Juni nicht wählen, sondern mussten zwei Wochen warten bis zum 23. Juni. Alle bisher abgegebenen Briefwahl-Briefe mussten ungeöffnet vernichtet werden. Eilig begannen die Vorbereitungen für die Nachwahl. Die CDU stellte den Unternehmer Christian Carstens aus Fredelsloh als neuen Kandidaten auf, die FDP setzte weiter auf Winfrid Hedergott, den FDP-Fraktionschef im Landtag.
Die SPD blieb bei Helmut Greulich, dem Wirtschaftsminister. Northeim, so viel war damals allen klar, war eine SPD-Hochburg, der Sieg von Greulich im Wahlkreis schien nicht nur wahrscheinlich, sondern sicher. Doch für Landeswahlleiter Claus Henning Schapper in Hannover stellte sich nun ein anderes Problem. Wie sollte man mit einer Landtagswahl umgehen, deren Ergebnis wegen der Ausklammerung der Northeimer nur vorläufig war? Der Erwartungsdruck war hoch, dass Schapper am Abend der Landtagswahl am 9. Juni ein vorläufiges Ergebnis präsentieren musste.

Man hätte wohl kaum mit der Auszählung noch bis zum 23. Juni warten können. Wie aber sollte Schapper in der Simulation mit Northeim umgehen? Sollte er das Resultat der Wahl von 1970 als Grundlage nehmen? Das hätte sich wohl zugunsten der SPD ausgewirkt, denn es beinhaltete in dem Wahlkreis viele SPD-Stimmen. Oder sollte er die Northeimer zunächst mit „0“ eintragen – wie es den tatsächlichen Verhältnissen entsprach? Dann wäre die erwartete klare SPD-Mehrheit in Northeim in der Mandatsverteilung am 9. Juni zunächst unberücksichtigt geblieben. Schapper entschied sich für die „0“-Variante.
Das war rückblickend schicksalhaft. Denn das Resultat am Abend des 9. Juni war extrem knapp: 78 Mandate für SPD und FDP, die sich die Koalition versprochen hatten, 77 für die oppositionelle CDU. Für die Christdemokraten gab es zwar rechnerisch keine Chance, die anderen noch zu übertrumpfen – aber das Resultat auf Basis der „0“-Variante hatte psychologisch die Wirkung eines sehr knappen Rennens. Das gab den CDU-Leuten Ansporn, diesen kurzen Abstand von einem Mandat bei der Northeimer Nachwahl noch zu verteidigen. „Wir haben uns damals für die Nachwahl enorm ins Zeug gelegt“, erinnert sich der damals noch junge CDU-Politiker Stünkel. Der Einsatz der CDU hinterließ zwar nicht ganz den gewünschten Effekt, aber wenigstens teilweise. Am Abend des 23. Juni lag die SPD in Northeim vorn, aber nicht so klar, wie sich das die Sozialdemokraten erhofft hatten. In der Gesamtrechnung des Landes-Wahlergebnisses war es lediglich ein SPD-Vorsprung von landesweit 17 Stimmen, der für die Zuteilung des letzten, des 155. Mandats relevant war. Folglich wurde entschieden, dass die SPD das letzte Mandat erhielt. Die SPD/FDP-Koalition kam damit auf 79 Mandate, die CDU auf 76. Das war dann das Kräfteverhältnis zum Start der neuen Legislaturperiode des Landtags.
Aber das Ringen ging weiter. Das äußerst knappe Ergebnis der Northeimer Nachwahl beflügelte nun verschiedene Aktivitäten, vor allem die des eifrigen CDU-Generalsekretärs Dieter Haaßengier. Wenn es nur 17 Stimmen Vorsprung für die SPD waren, die das letzte Mandat begründeten, ist dann nicht die Frage erlaubt, ob überhaupt richtig ausgezählt worden war? Der Northeimer Oberkreisdirektor ordnete nach Hinweisen auf mögliche Unregelmäßigkeiten eine Nachzählung an. Dabei hatte Landeswahlleiter Schapper ihm zuvor ausdrücklich erklärt, dass eine Nachzählung nur bei ernsthaften Hinweisen auf Pannen erlaubt sei – und für solche hatte Schapper keinerlei Anhaltspunkte. Immerhin ergab die Überprüfung in Northeim, dass der Stimmen-Vorsprung der SPD von 17 auf nur noch 13 Stimmen schmolz.
Wenn die Northeimer sich nun um vier Stimmen verzählt hatten – liegt dann nicht der Verdacht nah, dass landesweit auch falsche Ergebnisse festgestellt wurden? So zumindest argumentierten die Strategen der CDU. In Hannover entschied sich der Stadtwahlleiter zu einer Nachzählung, und prompt wurden dort 50 Stimmen zu wenig für die CDU festgestellt. Jetzt konnte auch der Landeswahlleiter nicht mehr zögern, er verständigte sich gemeinsam mit Innenminister Richard Lehners auf die landesweite Nachzählung, und auch der Wahlprüfungsausschuss des Landtags, geleitet vom Northeimer FDP-Abgeordneten Winfrid Hedergott, widmete sich intensiv dem Thema. Es wurden überall im Lande Unregelmäßigkeiten festgestellt – mal zugunsten der SPD, mal zugunsten der CDU. 1975 wurde dann die Sitzverteilung per Landtagsbeschluss korrigiert: Die SPD verlor einen Abgeordnetensitz, die CDU gewann einen hinzu. Deutlich wurde bei all diesen Diskussionen, wie anfällig diese Wahl-Auszählungen sind. Damals war es noch üblich, dass die ehrenamtlichen Wahlvorstände in Gaststätten tagten und viele Wähler ihnen „einen ausgegeben“ haben. Das ist heute nicht mehr der Fall, die Vorschriften sind strenger geworden. Hatte also der Alkoholgenuss in den Wahlvorständen die Zählfehler bewirkt? Oder die Tatsache, dass die Wahlvorstände überlastet waren?
Eine Frage, die 50 Jahre später relevant ist, lautet: Was wäre, wenn Günter Ludwig am Abend des 3. Juni 1974 nicht tödlich verunglückt wäre? Die Wahl am 9. Juni wäre ohne Besonderheiten verlaufen, eine Northeimer Nachwahl hätte es nicht gebraucht. Womöglich wäre das Resultat auch nicht so knapp ausgefallen – und mit einem satteren Stimmenvorsprung der SPD hätte es vermutlich nicht den Druck in Richtung Nachzählung gegeben. Schon die Abhängigkeit des Wahlergebnisses von der Northeimer Nachwahl brachte eine einzigartige Instabilität in diese Landtagswahl von 1974, die dann wie ein Schatten über der gesamten Legislaturperiode lag. Heute wäre das so nicht mehr möglich, denn wir haben ein Zweistimmenwahlrecht, die Nachwahl in einem Wahlkreis wäre wegen der Zweitstimmenregel nicht bedeutsam für die Stärke der Fraktionen im Landtag. Hätte es die Aufgeregtheiten rund um die Wahl 1974 und die nur hauchdünne Mehrheit von SPD und FDP nicht gegeben, so wäre vermutlich auch nicht der große Kampfeswille der CDU angestachelt worden. Die Partei bereitete vieles vor, um bei der angekündigten Neuwahl des Ministerpräsidenten 1976 im Landtag zu triumphieren – was dann auch mit Ernst Albrecht als Spitzenkandidaten gelang.