Die Wirklichkeit im Lande Niedersachsen war Anfang der siebziger Jahre so: Es gab landesweit 4218 Gemeinden, davon hatten 254 weniger als 100 Einwohner. Aber sie waren gleichgestellt mit den größeren Städten, hatten eigene Bürgermeister und Gemeindedirektoren, regelten ihre eigenen Angelegenheiten selbstständig. Wie sah diese „professionelle Verwaltung“ aus? Auf den Dörfern beruhte vieles auf Abmachungen und gegenseitigen Versprechen. Die schriftliche Fixierung jedes Vorgangs? Vermutlich war diese oft nur lückenhaft oder gar nicht geschehen. Die Transparenz bei der Personalauswahl und bei größeren Investitionsentscheidungen? Sie war wahrscheinlich von Ort zu Ort höchst verschieden. Viel hing von der Kompetenz und Stringenz der Arbeit des jeweiligen Gemeindedirektors ab. Vorgaben für Ausschreibungen? Das klang auf dem Dorf fremd.

Der Ortseingang von Gleidingen (heute Region Hannover) im Jahr 1974. | Foto: Heinz Koberg/Region Hannover

In den ersten Jahren nach Kriegsende hat man all diese Zustände hingenommen, ja man war dankbar für die vielen ehrenamtlichen Kräfte, die im Gemeinderat und in den Vereinen das Dorfleben sicherstellten. Doch die siebziger Jahre brachten eine Veränderung mit sich. Zunehmend entdeckten die Politiker auf Bundes- und Landesebene das Instrument der Planung für sich. Sie wollten eine vorausschauende Landesentwicklung sicherstellen, Schwerpunkte setzen und bestimmte Vorhaben besser als bisher steuern. In dieser Zeit waren Vergrößerung und Zentralisierung noch positiv besetzte Begriffe. Die kleine Dorfschule galt seinerzeit als „Old School“ – denn in überfüllten Klassen oder bei nur einem Dorflehrer schien die Vermittlung der modernen pädagogischen Inhalte nicht mehr angemessen zu sein. Die Schulzentren, die mit größeren Neubauten einhergingen, schienen erstrebenswert. All das wurde begleitet von neuen Regelwerken, von mehr Vorgaben und mehr Kontrollen.

Allein die Tatsache, dass diese Konzepte neu waren, reichte oft schon für die Ansicht, sie müssten dann auch gut sein. In der Landesverwaltung hatte all das eine Entsprechung. Die siebziger Jahre waren die Zeit der Planungsstäbe, in der Staatskanzlei wurde dafür extra ein Team abgestellt, geleitet von einem Professor namens Gunter Kappert. Für die kommunalen Strukturen gab es seit 1965 ein Gutachten, geschrieben vom Verwaltungsexperten Werner Weber. Er hatte einer Sachverständigenkommission vorgesessen und mehrere klare Empfehlungen abgegeben. In der Politik, so schien es, war nur noch ein formaler Akt für die Umsetzung nötig. Der allgemeine Erwartungsdruck, dass man sich einer Modernisierung der überkommenen Strukturen nicht in den Weg stellen werde, beflügelte den Optimismus nicht nur der Planer, sondern auch der meisten handelnden Politiker.

Werbeleiter Rolf Hantelmann (rechts) stellt dem Sparkassen-Vorstand in Neustadt 1974 die erste topographische Karte des neuen Landkreises Hannover vor. | Foto: Wilhelm Bartling, Bildarchiv der Region Hannover, CC BY-SA 3.0 DE

So sollten die 60 Landkreise und 16 kreisfreien Städte neu geschnitten werden, und die mehr als 4000 Gemeinden sollten drastisch verringert werden. Heute hat Niedersachsen noch 939 Gemeinden, davon sind die allermeisten, nämlich 650, Mitgliedsgemeinden von Samtgemeinden, es gibt landesweit 114 Samtgemeinden. Weber hatte, was die Gemeinde-Anzahl angeht, noch eine Halbierung auf 2044 vorgeschlagen. In der Realität ist also, über die Jahre, das Reformziel noch übertroffen worden. Der erste große Schritt geschah zum 1. März 1974, er liegt also genau 50 Jahre zurück. Im Raum Hannover wurden die Strukturen neu geschaffen, dazu entstanden im Umkreis zur Landeshauptstadt 20 Städte und Gemeinden, die jeweils aus etlichen Ortsteilen bestehen, die früher selbstständige Gemeinden waren. Die bis dahin eigenständigen Kreise Neustadt am Rübenberge, Burgdorf und Springe verloren ihre Existenz.

Neugegliedert wurden 1974 auch die Bereiche Gandersheim, Einbeck und Northeim, das Schaumburger Land, der Raum Lüneburg und der Raum Bremervörde, der Bereich Osterholz und Wesermünde, der Bereich des Heidekreises, die Grafschaft Bentheim und Lingen, die Gemeinden im Raum Meppen, der Bereich Delmenhorst, Diepholz und Grafschaft Hoya, der Bereich Gifhorn, das Gebiet im Braunschweiger Raum, der Bereich Hildesheim und Alfeld, der Bereich Nienburg und die Gemeinden im Raum Cloppenburg und Vechta. Es gab in vielen Orten, die betroffen waren, heftige Diskussionen – vor allem dann, wenn benachbarte und bisher eigenständige Gemeinden plötzlich gezwungen wurden, miteinander zu verschmelzen oder gemeinsam Teil eines viel größeren Gebildes zu werden. Manchmal erschien das als gesetzlicher Druck, jahrhundertealte Vorbehalte überwinden zu müssen. Folglich richtete sich der Unmut dann an „die da in Hannover“.

Ein Entwurf zeigt den „Neustädter Vereinigungstaler“ mit den Namen der 34 Gemeinden, die zur neuen Stadt Neustadt zusammengeschlossen werden. Die Münze wird aber nie realisiert. | Foto: Wilhelm Bartling, Bildarchiv der Region Hannover, CC BY-SA 3.0 DE

Der Protest auf Gemeindeebene blieb überwiegend gedämpft, von Ausnahmen abgesehen. So wurden vielerorts die bis dahin selbstständigen Gemeinden symbolisch „zu Grabe getragen“, und manche Proteste vor Ort waren auch erbittert. Die später auf Kreisebene vorgetragenen Einwände indes waren vielerorts deutlicher, spürbarer und im Laufe der Jahre auch drastischer. 1974 markiert ja erst den Anfang. Als dann aber in den Folgejahren die nächsten Schritte anstanden und deutlich wurde, dass die politischen Mehrheiten auch auf Landesebene für das Gesamtprojekt ins Rutschen kommen könnten, spornte das einige Kritiker an. Zu jener Zeit waren die Landräte noch ehrenamtliche Repräsentanten ihrer Landkreise, sie konnten damit gleichzeitig Landtagsabgeordnete sein. Angestachelt von ihren lokalen Honoratioren erklärten mehrere SPD-Landesparlamentarier, die zuhause wichtige kommunalpolitische Ämter hatten, mehr oder weniger offen ihr Unverständnis über die Kreisreform-Pläne. Sie stemmten sich so gegen die Opferung ihrer alten Kreise zugunsten einer Fusion mit Nachbarkreisen. Da nach der Landtagswahl 1974 die neue SPD/FDP-Koalition nur ein Mandat mehr hatte als die oppositionelle CDU, der Kreiszuschnitt aber selbst in der Koalition umstritten war und zudem für 1976 die geheime Wahl des Ministerpräsidenten (für die Nachfolge von Alfred Kubel) anstand, braute sich rund um die Kreisreform ein enormes Konfliktpotenzial zusammen. Diese Konstellation ließ die Kreisreform plötzlich zu einer Bewährungsprobe für die Beständigkeit der sozialliberalen Koalition werden. Am Ende zerbrach die Koalition, die Kreisreform wurde von der neuen CDU/FDP-Mehrheit in den Folgejahren abgemildert – und umgesetzt.

Viel ist geschrieben worden in den Folgejahren über die Frage, ob die Planungseuphorie zu viel Gewicht hatte in den politischen Entscheidungen, ob man zu wenig Respekt hatte vor landsmannschaftlichen Gesinnungen und Vorbehalten in den ländlichen Gegenden – oder ob der Dialog mit den Bürgern und Vereinen über die Reform vernachlässigt wurde, ob es also zu Recht ein Gefühl gegeben hat, man habe den Menschen die Reform „übergestülpt“. Eine andere Sichtweise besagt, die Art und Weise der Kommunalreform in den siebziger Jahre sei „kostentreibend“ für den Steuerzahler geworden. So hätten kleine Gemeinden in Anbetracht der bevorstehenden Fusion mit Nachbarkommunen noch große Investitionen in Auftrag gegeben – für ein Freizeitheim, einen Kindergarten, ein Hallen- oder ein Freibad. Dies sei immer wohlwissend geschehen, dass für die Folgekosten dann die neue, weit größere Gemeinde werde aufkommen müssen.

Andere sagen gar, derartige Projekte seien die „Mitgift“ der kleinen Gemeinden gewesen, der Preis für die eigentlich unwillkommene Hochzeit. All das kann im Einzelfall eine sehr berechtigte Kritik sein. Trotzdem gilt heute: Ein Zurück in die Zeit vor den siebziger Jahren, als der Gemeindedirektor am Abend auf seinem Küchentisch die nötigen Verwaltungsarbeiten mal eben nebenher erledigte, kann sich heute niemand mehr vorstellen. Schon allein die Vorschriftenflut, die sich heute über die kommunalen Verantwortungsträger ergießt, lässt eine solche Sehnsucht in die Zustände der Vergangenheit völlig illusorisch werden.

1974 verabschiedet sich Gleidingen aus dem Landkreis Hildesheim-Marienburg und wird zu einem Teil der Stadt Laatzen. | Foto: Heinz Koberg/Region Hannover

Ist die vor 50 Jahren gestartete Verwaltungsreform angemessen fortgesetzt worden? Nein, das ist sie nicht. Es hat immer wieder Ansätze für eine Anpassung der Kreisstrukturen gegeben, um das Ungleichgewicht zu beseitigen – der Großraum Hannover mit einer Million Einwohnern, der Kreis Lüchow-Dannenberg mit 50.000. Beide sind pro forma gleichberechtigt. Tatsächlich ist die Bildung der Region aus der Landeshauptstadt und dem sie umgebenden Landkreis Hannover im Jahr 2001 ein Meilenstein gewesen, aber ein „Regionsbewusstsein“ ist wohl bis heute nicht entstanden.

Später gab es dann noch eine größere Reform, den Zusammenschluss der Kreise Osterode und Göttingen im Jahr 2016. Es hätte eine Initialzündung sein können für weitere Kreisreformen, wie manche erhofft hatten und wie schon 2012 in einem Gutachten vorgeschlagen worden war. Aber Versuche in diese Richtung, zuletzt die Pläne eines Zusammenschlusses von Wolfsburg und Helmstedt oder der Kreise Hildesheim und Peine, wurden von der politischen Spitze im Land immer wieder torpediert. Die Offenheit für Veränderungen war einfach nicht vorhanden. Sie ist es bis heute nicht.