Warum in der Corona-Krise die Erinnerung an 1945 so schwer fällt
Es ist nicht lange her, da wurde der 75. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers in Bergen-Belsen begangen. In den Nachrichten wurde ausführlich darüber berichtet, die Reden des Tages, unter anderem von Ministerpräsident Stephan Weil, waren nachdenklich und eindringlich. Aber bleibt das Gedenken an diesem Tag im April des Jahres 2020 als besonders würdevoll und beeindruckend im Gedächtnis der Menschen hängen, die Anteil daran genommen haben? Vermutlich wird dies nicht so sein.
Gleiches gilt für andere 75-Jahres-Gedenktage in diesem Frühjahr, die um das Kriegsende und die Neugründung der Demokratie in der Bundesrepublik kreisen – beispielsweise der „Tag der Befreiung“ am heutigen 8. Mai, dem Tag der deutschen Kapitulation im Zweiten Weltkrieg, oder vor wenigen Wochen am 19. April, die 75. Wiederkehr des Tages der Neugründung der SPD unter Kurt Schumacher in Hannover-Linden.
Die Begleitmusik fehlt
All das sind wichtige Ereignisse, aber die „Begleitmusik“, die solche Anlässe zu wirklich würdevollen Veranstaltungen erhebt, fehlt in diesem Jahr fast vollständig. Die Gründe dafür werden – völlig zu Recht – von der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung vorbehaltslos akzeptiert: Wir leben in einem Ausnahmezustand und wollen gemeinsam verhindern, dass sich das aggressive Corona-Virus über Großveranstaltungen schneller verbreitet und der Kollaps unserer Krankenhäuser die Folge sein könnte.
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Unter „Begleitmusik“ ist nicht nur die Musik im wörtlichen Sinne gemeint, sondern vieles, was Großveranstaltungen ausmacht: Das Zusammensein vieler Menschen, die gemeinsam zuhören, gemeinsam still sind, sich gemeinsam im Andenken erheben. Die zwangsläufige Folge sind Begegnungen, Gespräche am Rande, der Austausch von Gedanken und Meinungen nicht nur zwischen den Rednern und der Festgemeinde, sondern auch zwischen den Teilnehmern. Das ist im übrigen auch das, was in diesem Jahr zum 1. Mai in der Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung fehlte – die Geselligkeit und Gemeinsamkeit von Leuten, die sich zusammengehörig fühlen.
Schafft die Krise Freiheit zum Gedenken?
Nun braucht nicht jede Gedenkveranstaltung eine große Zuhörerschaft, ein Gedenktag kann sogar Menschen bewegen, ohne dass es überhaupt irgendeine Art von Festakt oder Rede dazu gibt. Vor allem kommt es doch darauf an, wie berührt die Leute sind, wenn ein runder Jahrestag sie zwangsläufig dazu bringt, sich zu erinnern oder an Vorfahren zu denken. Ein Symbol, etwa ein berührendes Foto oder ein bestimmtes Lied, kann enorm verbindend wirken. Jetzt kann man die These vertreten, dass in schweren Zeiten wie diesen, in denen es so starke Einschränkungen von Grundrechten gibt wie seit Bestehen der Bundesrepublik nicht, die Ernsthaftigkeit das Gedenken sogar erleichtern könnte.
Es fehlt ja die Ablenkung durch allerhand Oberflächlichkeiten und überflüssige Rituale, die das öffentliche Leben vor der Corona-Krise so stark geprägt hatten. Das stimmt zwar, aber die Frage ist, ob dadurch neue Freiheiten gewonnen werden, sich wirklich vertiefen zu können in Ereignisse, die früher stattgefunden haben und Mitleid empfinden zu können mit den Opfern von damals, etwa mit den Häftlingen in den Konzentrationslagern.
Wunsch nach Zerstreuung und Ablenkung
Es kann auch ein anderer Effekt eintreten, nämlich die Überforderung vieler Menschen mit der aktuellen Krise, die alle ihren psychischen Kräfte bindet und keinen Freiraum mehr lässt für Empathie und Mitgefühl – auch nicht für eine würdevolle Erinnerung an vergangenes Leid. Ganz viele Menschen sind in diesen Wochen gereizt, sie hetzen von Video-Konferenz zu Video-Konferenz, sie wissen nicht wie es weitergeht mit ihrem Arbeitsplatz, ihrem Auskommen und mit der Frage, ob der Staat in allen Situationen seinen Bürgern aus den Nöten wird helfen können.
Die Politiker sehen gerade ihre politischen Pläne, die Haushaltspläne und die jahrzehntelang mit Überzeugung vertretenen Prioritäten zerplatzen. Menschen, die es gewohnt sind, nach verlässlichen Vorgaben zu arbeiten, bekommen nun zu hören, man müsse „auf Sicht fahren“ und könne schon morgen, wenn sich das Virus doch wieder stärker verbreitet haben sollte, mit ganz neuen Wirklichkeiten konfrontiert werden. Die Reaktion darauf ist Anspannung, die der Ungewissheit folgt und jegliche Gelassenheit beiseite schieben kann. Das muss doch, wenn auch in stark abgeschwächter Form, dem Kriegserlebnis mit der ständigen Angst vor einem Bombenangriff ähneln.
Wenn man in solchen Situationen einen ruhigen Moment erlebt, und sei es nur als Fernsehzuschauer einer Gedenkveranstaltung zu einem Gedenktag, kann man dann unbelastet vom Alltag in Gedanken bei den Opfern von früher sein? Es ist auch gut möglich, dass man stärker seine eigenen aktuellen Ängste und Sorgen spürt und auf das Gedenkereignis überträgt. Das kann eine Abwehrhaltung auslösen, den Wunsch nach Zerstreuung und Ablenkung von all dem Sorgenvollen.
Jede historische Feier drückt, wie jede Geschichtsschreibung überhaupt, ganz viel auch aus über den Blick auf die Gegenwart. Das macht die 75-Jahr-Feiern, die wir jetzt erleben, so einzigartig. In 25 Jahren, wenn das 100-jährige Ende des Zweiten Weltkriegs begangen wird und auch der 100. Jahrestag der Wiedergründung der SPD nach dem Zweiten Weltkrieg, schaut man vielleicht höchst interessiert darauf zurück, wie sich die Menschen im Corona-Jahr 2020 erinnert hatten. Das dürfte dann eine interessante Einschätzung werden. (kw)