Warum es unwahrscheinlich ist, dass Niedersachsen bald seine Wolfsbestände reguliert
Im Koalitionsvertrag der rot-grünen Landesregierung stehen sechs Sätze zur Wolfspolitik und darin vier Wörter, die Konfliktstoff bergen. Neben Bekenntnissen zur Weidetierhaltung und Versprechen zum Schutz derselben, findet man dort zwei entscheidende Projekte, die sich SPD und Grüne vorgenommen haben. Das eine ist das unstrittige „Dialogforum Weidetierhaltung und Wolf“, bei dem es vor allem darum geht, die zerstrittenen Konfliktparteien wieder an einen Tisch zu bringen. Das andere Projekt ist heikler, es geht um die Mitwirkung an einem „europarechtskonformen regional differenzierten Bestandsmanagement“. Das klingt nach viel, nach einem großen Wurf – und kann doch wie eine Blase ganz schnell zerplatzen. Mit dieser Formel orientiert sich die niedersächsische Koalition an dem, was bereits auf Bundesebene in den Ampel-Vertrag hineingeschrieben worden ist. Was genau damit gemeint ist, scheint allerdings keinesfalls geklärt zu sein.
Um die unterschiedlichen Interpretationen dieser Kompromissformel besser zu ergründen, lohnt zunächst ein Blick zurück auf die Argumentation der Vorgängerregierung. Wenn man sich im November 2021 mit dem damaligen Umweltminister Olaf Lies (SPD) über seine Wolfspolitik unterhalten hat, sprach dieser bereits von einer „selektiven regionalen Bestandsregulierung“, zu der man gelangen müsse. Das war in etwa die Zeit, zu der Lies auch auf Bundesebene in den Koalitionsverhandlungen am Wolfs-Kapitel mitgeschrieben hat. Was meinte er damals damit? Lies warb seinerzeit sowohl für eine begründete Unter-, als auch für eine Obergrenze bei der Anzahl an Wölfen, die regional akzeptiert werden müssen. Die Obergrenze nannte er Akzeptanzgrenze, die sich zwar nicht messen ließe, die aber an der Betroffenheit der jeweiligen Anwohner einer Region ausgerichtet werden müsse. Sollte diese Schwelle dann überschritten werden, würde das Jagdrecht greifen müssen, der Wolfsbestand müsste aktiv kleingehalten werden können, argumentierte Lies damals – und so argumentiert man seitens der Niedersachsen-SPD auch noch heute. Das Ziel ist es, über die besonders auffälligen Problemwölfe hinaus Wölfe bejagen zu dürfen, wenn diese regional zu einem zu großen Problem würden.
Kann es Grenzwerte nur für Niedersachsen geben?
Die Untergrenze definierte in Lies‘ Argumentation wiederum, wie viele Tiere mindestens am Leben bleiben müssten, damit die jeweilige Population nicht einzubrechen drohte. Diese Untergrenze lehnte sich an den Begriff des „günstigen Erhaltungszustands“ an, der den Wolf vom Naturschutz her betrachtet und der für die EU relevant ist. Er ist aber nicht deckungsgleich mit diesem, weil die EU die föderalen Strukturen der Bundesrepublik nicht weiter beachtet. Deshalb zählt für sie bei der Bewertung des „günstigen Erhaltungszustands“ stets der Bezug zum ganzen Bundesgebiet. Solange es noch Regionen gibt, in denen keine Wölfe leben, kann nach EU-Deutung der „günstige Erhaltungszustand“ noch nicht erreicht sein. Lies hielt diese Herangehensweise für falsch. Er war schon 2021 davon überzeugt, dass die Wolfspopulation in Niedersachsen und den angrenzenden Bundesländern nicht mehr gefährdet sei und ließ dies durch eine Populationsstudie untermauern. Er sagte zudem, dass er nicht bereit sei, dass man die Population in Niedersachsen so lange unberücksichtigt lässt, wie es im Saarland keinen Wolf gibt. Seiner Ansicht nach sei es die Aufgabe der Bundes- und Landesregierung, die europarechtlichen Spielräume für die Regionalisierung der Bestandsstruktur auszuloten. Das SPD-Verständnis eines „europarechtskonformen regional differenzierten Bestandsmanagements“ meint also, dass ein „günstiger Erhaltungszustand“ auch auf einer Ebene unterhalb des Nationalstaates ermittelt werden können müsste.
Diese Argumentation würde sich nun Lies‘ Nachfolger als niedersächsischer Umweltminister nicht zu eigen machen. Christian Meyer (Grüne) sagte bei der Pressekonferenz anlässlich der ersten Zusammenkunft des „Dialogforums Weidetierhaltung und Wolf“ zum Bestandsmanagement: „Es wird keine niedersächsische Ober- oder Untergrenze geben.“ Während man bei der SPD also daran denkt, den europarechtlichen Status quo an die niedersächsischen Bedürfnisse anzupassen, zieht man sich bei den Grünen darauf zurück: Es geht nicht, weil es nicht geht. Dass sich die EU auf eine regionalisierte Betrachtung der Wolfspopulation einlassen könnte, sieht man bei den Grünen nicht. Womöglich ist das eine weniger populäre aber auch weniger populistische Sichtweise. Unter einem „regional differenzierten Bestandsmanagement“, das mit EU-Recht kompatibel ist, versteht man dort eher, dass man in bestimmten Regionen, in denen der Druck besonders groß ist, relativ pragmatisch Ausnahmegenehmigungen für die Entnahme eines Wolfes erteilt. Denn darin ist man sich immerhin einig: Dass Problemwölfe geschossen werden sollen, daran möchte man festhalten. Wenngleich Meyer mit seiner Vorgabe, die naturschutzrechtlichen Ausnahmegenehmigungen vorab zu veröffentlichen, den tatsächlichen Abschuss womöglich noch erschwert.
2025 wird der Erhaltungszustand wieder überprüft
Christian Meyer blickt bei seiner Wolfspolitik derweil auf das Jahr 2025. In diesem Jahr wird die EU eine Neubewertung des Erhaltungszustands des Wolfes vornehmen – zeitgleich mit zahlreichen anderen bedrohten Arten. Bereits 2024 wird Deutschland den nächsten nationalen Bericht zur Flora-Fauna-Habitat-Richtlinie an die EU weitergeben. Diese Richtlinie regelt, welche Tier- und Pflanzenarten innerhalb der EU welchen Schutz genießen. Eine turnusmäßige Überprüfung findet alle sechs Jahre statt. Als Deutschland den letzten nationalen Bericht zur FFH-Richtlinie für den Zeitraum 2013 bis 2018 abgegeben hatte, bewertete man den Erhaltungszustand der Art Wolf in Deutschland mit „ungünstig-schlecht“. Bemerkenswert ist dies unter anderem deshalb, weil 2018 der Zustand der mitteleuropäischen beziehungsweise zentraleuropäischen Flachlandpopulation von Experten als „ungefährdet“ herabgestuft worden war.
Hieran lässt sich schon erkennen: Die Sache mit dem Schutzstatus des Wolfes ist hochgradig kompliziert. Relevant für die Bewertung des „günstigen Erhaltungszustands“ sind neben der Größe und Dynamik der jeweiligen Population auch die Verbreitung, das Habitat und die Zukunftsaussichten innerhalb einer sogenannten biogeographischen Region eines EU-Mitgliedsstaates. Drei dieser Regionen befinden sich auch auf Bundesgebiet: die alpine, atlantische und kontinentale Region. Ein Großteil Niedersachsens gehört nach dieser Betrachtung zur atlantischen Region, Teile des Südens und Ostens werden aber bereits zur kontinentalen Region gerechnet. Es wird ermittelt, ob man davon ausgehen kann, dass der Wolf ein lebensfähiges Element seines natürlichen Lebensraums ist und bleiben wird. Für diese Bewertungen gibt es Richtwerte, aber es bleibt Interpretationssache. Zuständig ist dabei die Bundesebene mit dem Bundesumweltministerium und dem untergeordneten Bundesamt für Naturschutz.
Niedersachsen könnte Vorbild beim Wolfsmonitoring werden
Immerhin beim Ermitteln der Populationsgröße sei Niedersachsen vorbildlich im eigentlichen Wortsinn, heißt es. Der Bund schaue genau, ob man sich am Wolfsmonitoring, das in Niedersachsen die Landesjägerschaft vornimmt, etwas abschauen könne. Ein Problem bleibt aber bei der statistischen Betrachtung nach wie vor, dass weite Teile der Republik noch wolfsfrei sind. Weil sich der Wolf potenziell in der gesamten Kulturlandschaft Deutschlands gut ausbreiten kann, solange er ein ruhiges Fleckchen zum Rückzug findet, könnte es in der Bundesrepublik locker zwischen 700 und 1400 Wolfsterritorien mit 4200 bis 8400 Wölfen geben. Zum Vergleich: Zuletzt hat man offiziell 161 bestätigte Rudel, 43 Paare und 21 territoriale Einzeltiere gezählt. Realistisch ist eine flächendeckende Ausbreitung aber am Ende nicht – und notwendig aus Sicht des Naturschutzes auch nicht. Anstatt die Ausbreitung des Wolfes nun noch regionaler, also kleinteiliger zu betrachten, wäre es vermutlich die ehrlichere Betrachtungsweise, würde man den Blick weiten und dann womöglich erkennen, dass es dem Wolf vielleicht doch schon ganz gut geht in Europa.
Dieser Artikel erschien am 09.03.2023 in der Ausgabe #044.
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