Was war vor 100 Jahren? General sieht Lehren für die Verantwortung der Politik
Es ist die Rolle von Friedrich Ebert, des ersten deutschen Reichspräsidenten, die einen hohen deutschen Militärvertreter geradezu fasziniert. Generalleutnant Carsten Jacobson, Vize-Inspekteur des Heeres und Befehlshaber für Auslandseinsätze der Bundeswehr, hat sich mit dem Wirken des SPD-Politikers in der Zeit nach dem Ende des Ersten Weltkriegs beschäftigt – und in seiner Schilderung schwingt Bewunderung mit. Ebert habe sich damals „wie ein Ackergaul“ vor dem im Dreck steckenden Karren spannen lassen und die Weimarer Republik entschlossen aufgebaut. Für seine damaligen Berufskollegen, die führenden Soldaten, hat Jacobsen indessen kein Lob übrig: General Erich von Ludendorff, damals Oberbefehlshaber, habe sich davongemacht. Zuvor habe die Oberste Heeresleitung, zu der auch Paul von Hindenburg zählte, viel Mühe gegeben, die Verantwortung in der Stunde der Kriegsniederlage an die Politiker abzuschieben.
[caption id="attachment_29348" align="alignnone" width="736"] Michael Fürst (v.r.), Hartmut Tölle, Carsten Jacobson und Gundolf Algermissen. Foto: Wallbaum[/caption]
Ebert, sagt heute Jacobson, habe im Unterschied zu vielen anderen nicht gezögert, sondern gehandelt. Er habe nicht an die Parteitaktik gedacht, sondern an die Verantwortung für sein Land. Es habe ihn nicht geschert, ob er mit seinem Agieren nun populär wird, seine eigene Beliebtheit oder die seiner SPD steigert – er habe vielmehr zugepackt. Parallelen zur aktuellen Politik, wenn es um die Bildung einer neuen Bundesregierung geht? Jacobson lächelt, will aber über die aktuellen Dinge nicht viel sagen, dafür umso mehr über das historische Vorbild. Ebert paktierte damals mit dem neuen Militärführer General Wilhelm Görner, versuchte die Streikenden zu befrieden und wollte die Rückführung der Soldaten ins Land möglichst geordnet ermöglichen. Anfeindungen waren die Folge, die Gegner der jungen Demokratie attackierten Ebert, der zum ersten Reichspräsidenten aufgestiegen war. Der SPD-Mann wurde verunglimpft und angegriffen, seine Gesundheit litt darunter, und er starb an einer Blinddarmentzündung mit nur 54 Jahren. General Jacobson erinnert an diese Ereignisse in seinem Beitrag für ein Buch, das in diesen Tagen im Buchhandel zu erwerben ist. Es heißt: „Vom Reichskongress zur Reichstagswahl“, trägt den Untertitel: „Der steinige Weg in die Demokratie 1918 bis 1920“ und kostet 15 Euro. (ISBN 978-3-932082-52-8).
Keine historische Abhandlung
Zum vierten Mal wird damit ein Buchband angeboten, der in einer auf den ersten Blick sonderbaren Autorenschaft entstanden ist – unter der Leitung von Gundolf Algermissen, der für den DGB-Landesbezirk Niedersachsen-Sachsen-Anhalt-Bremen die historische Arbeit leistet. Der DGB, der Arbeitgeberverband NiedersachsenMetall, der Landesverband der Jüdischen Gemeinden, die Stiftung Braunschweigischer Kulturbesitz und die AOK Niedersachsen haben sich seit 2014 mit der Frage befasst, was eigentlich damals los war, als vor 100 Jahren der Erste Weltkrieg herrschte. Es ist keine streng historische Abhandlung, sondern eine Mischung verschiedener Sicht- und Erzählweisen. Da ist die historisch-analytische Betrachtung einerseits, dann die Präsentation von zeitgenössischen Berichten in Briefen und Notizen, angereichert wird es mit einer Vertiefung bestimmter Details, die für das Verständnis der damaligen Ereignisse wichtig und notwendig sind. Auch in diesem Jahr wird wieder der Blick nach Hannover, Braunschweig, Hildesheim und Magdeburg gerichtet und versucht zu zeigen, wie die Menschen damals in ihrer Heimat die Revolution von 1918 erlebt haben. Es wird klar, wie sehr sich die Ereignissen überschlugen, wie wenig Zeit zum sorgfältigen Planen oder Taktieren vorhanden war.
Eine infame Lüge
Was ist denn das Besondere der damaligen Zeit gewesen? Michael Fürst, Landesvorsitzender des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden, spricht von den vielen Vorurteilen, die gerade die Juden damals betroffen hätten. Das Land war zerrissen, die Macht lag auf der Straße, die Soldaten kehrten zurück und mussten in die Gesellschaft integriert werden. Dazu kam das Leid der Spanischen Grippe, die Tausende dahinraffte. Fürst sagt, dass unter den vielen Soldaten, die für das Vaterland in den Krieg gezogen und dort gefallen sind, überproportional viele Juden waren – und trotzdem hätten rechtsradikale Kreise, die später Sündenböcke für Not und Probleme suchten, schnell „die Juden“ identifiziert. Es sei eine infame Lüge gewesen, „die Juden“ als „vaterlandslose Gesellen“ zu brandmarken. Hartmut Tölle, Landesvorsitzender des DGB, setzt sich vor allem mit der Monarchie auseinander, die in Deutschland heute immer noch „romantisiert“ werde. Die Niederlage Deutschlands im Ersten Weltkrieg aber offenbare, wie leichtsinnig und völlig frei von realistischer Einschätzung der Kaiser und die Oberste Heeresleitung in den Krieg gestürzt waren, nach dem Kriegsende habe sich bei den Verantwortlichen Ratlosigkeit breit gemacht. Noch 1918 hätten einige Militärführer an die Möglichkeit eines „Siegfriedens“ geträumt.
Aufstände waren keine Ablehnung der entstehenden Demokratie
Dass die Republik dann unter anderem von Ebert zielstrebig aufgebaut wurde, nötigt Tölle großen Respekt ab: „Wir erkennen, dass die Demokratie eben nicht einfach von selbst entsteht. Man muss sich für sie engagieren, man muss sie auch gestalten.“ Auch die Arbeiter- und Soldatenaufstände damals, unter anderem in Wilhelmshaven, könne man nicht als Ablehnung der dann entstehenden parlamentarischen Demokratie interpretieren – vielmehr hätten die Matrosen revoltiert, weil die Militärführung geplant hatte, sie noch einmal in die Schlacht und in den sicheren Tod zu schicken. Eine etwas andere Beurteilung von weit links kommt vom Publizisten Werner Ruch, der im Zusammenhang mit dem Kapp-Putsch von 1920 ein Loblied auf die Gewerkschaften singt und die Regierenden gleichzeitig sehr skeptisch einschätzt.
Christian Budde, Sprecher von NiedersachsenMetall, hat sich mit den damaligen Bemühungen um einen Interessensausgleich von Arbeitgebern und Gewerkschaften befasst, die im „Stinnes-Legien-Abkommen“ ihren Ausdruck fand. Der Achtstundentag (noch auf die Sechstagewoche bezogen) wurde damals festgelegt, allerdings, wie Budde schreibt, im Laufe der Jahre dann auch wieder aufgeweicht. (kw)Dieser Artikel erschien in Ausgabe #216.