Vor 70 Jahren: Warum Hannover keine Fusion mit Großbritannien einging
Der Herbst 2019 bietet Anlass für Rückblicke: Was war in diesem Land los vor zehn Jahren, vor 20 Jahren, vor 30, 40, 50, 60 und 70 Jahren? In einer kleinen Serie wollen wir zurückschauen – und dabei versuchen, ein paar Grundlinien der politischen Entwicklung zu entdecken. Heute: Niedersachsen im Jahr 1949.
Der Name Kurt Brüning ist nur Eingeweihten ein Begriff, in vielen Veröffentlichungen zur Geschichte Niedersachsens taucht er gar nicht auf. Dabei hat der Geograph und Landeskundler schon in der Spätphase der Weimarer Republik, als über eine „Reichsreform“ diskutiert wurde, ein Konzept zur Gründung eines Landes mit dem Namen „Niedersachsen“ entwickelt. Brüning lebte später im Klein Heidorner Ortsteil Stiefelholz, das heute zu Wunstorf (Region Hannover) gehört.
Nach dem Krieg wurde er erster Direktor des Landesamtes für Landesplanung und Statistik – und seine früher entwickelten Ideen sollten vor mehr als 70 Jahren auch deshalb durchschlagenden Erfolg haben, weil sie von einem zu jener Zeit sehr einflussreichen Politiker aufgenommen und weitergetragen wurden, von Hinrich Wilhelm Kopf. Dabei ist der Begriff „Niedersachsen“ schon viel älter, 1512 wurde er für die Gebiete zwischen Weser und Elbe verwendet, allerdings auch für Holstein, Lauenburg und Mecklenburg.
Gründung Niedersachsens war Ergebnis harten politischen Ringens
Dass vor 73 Jahren, im Jahr 1946, tatsächlich ein Land Niedersachsen gegründet wurde, war jedoch nicht die Folge historischer Zwangsläufigkeiten, sondern Ergebnis eines harten politischen Ringens. Das frühere Königreich Hannover war preußische Provinz, Preußen aber als dominanter Staat sollte nach Meinung der Alliierten nicht wiederentstehen. Es gab die selbstbewussten Oldenburger und die – nicht minder – selbstbewussten Braunschweiger.
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Und die Briten spielten eine Rolle als Besatzungsmacht, deren Interesse es war, ihre Ländereien geordnet an die Deutschen zu übertragen – zur britischen Zone gehörten neben diesem Areal auch die heutigen Gebiete von Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein. Die Briten orientierten sich zunächst an den vorgegebenen Verwaltungseinheiten und ernannten im April und Mai 1945 Hubert Schlebusch als Ministerpräsidenten in Braunschweig, Eberhard Hagemann als Oberpräsidenten der Provinz Hannover und Theodor Tantzen zum Oldenburger Ministerpräsidenten. Hagemann wurde schon nach fünf Tagen von Kopf abgelöst.
Es kam zu Überschneidungen bei den unterstellten Behörden, folglich zu Kompetenzgerangel zwischen den drei Politikern. Das wurde nicht leichter, als die Briten Ende 1945 die ersten Landtage ernannten, erst in Oldenburg, später dann in Braunschweig. Jetzt kam es zum „Streit der Denkschriften“, wie es in einer Festschrift von 1986 zu diesem Thema heißt. Kopf warb für ein Land Niedersachsen und die Stadtstaaten Hamburg und Bremen.
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Er hatte aber auch Teile Westfalens und Lippes in seinem Konzept, so Bielefeld, Herford und Minden. Tantzen, unterstützt von Schlebusch aus Braunschweig, warb für die Dreiteilung: Oldenburg und die gesamte Küstenregion zum Bundesland „Weser-Ems“, später waren auch Osterholz-Scharmbeck, Syke und Diepholz darin enthalten, Bremen natürlich auch. Daneben ein Land Braunschweig, das noch Hildesheim und Gifhorn aufnimmt – und ein „verkleinertes“ Land Hannover (das sogenannte Klein-Hannover), das dennoch mit 2,5 Millionen Einwohnern das größte der drei geworden wäre.
Hannovers OB Menge: Briten sollten Hannover übernehmen
Dieses Modell passte den Hannoveranern nicht, aber aus Oldenburg und Braunschweig wurde es vehement vorgetragen. Zur Verschärfung der Debatte trugen wohl auch – mehr oder weniger ernst gemeinte – Ideen des früheren hannoverschen Oberbürgermeisters Arthur Menge bei, der die Übernahme des alten Königsreichs Hannovers durch die Briten anregte, sozusagen in Fortsetzung der traditionsreichen, bis 1837 bestehenden Personalunion. Ein solches, unter dem Begriff „Aktion Dobbermann“ geformtes Konzept wurde nie ernsthaft diskutiert, schon gar nicht bei den Briten.
Aber manchen Oldenburgern und Braunschweigern war die Idee willkommen genug, die Hannoveraner als angeblich unzuverlässige Gesellen darzustellen. Andere Fragen wurden auch laut: Fühlten sich die Osnabrücker und Ostfriesen nicht Hannover näher als den Oldenburgern? Liebäugelten manche Emsländer eher mit den Westfalen? Läge den Bremern das Modell von Kopf nicht näher, das den – später verwirklichten – Stadtstaat vorsah? Im Juni 1946 hatten die Briten NRW als großes Bundesland geschaffen, wohl auch in der Hoffnung, damit im Streit der Alliierten über das Ruhrgebiet die Deutungshoheit zu halten. Eine Überlegung in London war damals wohl auch, dass die Kommunistenhochburgen in den Arbeiterstädten in einem großen Bundesland weniger Gewicht haben würden als in einem kleinen, auf die Industrieregion beschränkten Gebiet.
Britischer Zonenbeirat beriet über Konzepte
Der Zonenbeirat der Britischen Zone, eine Art parlamentarischer Vorläufer der Landtage, beriet Ende September 1946 über die verschiedenen Konzepte. Der Umgangston in der Debatte war durchaus nicht zurückhaltend. So soll Kopf vorgetragen haben, dass die Nazis einst in Oldenburg und Braunschweig sehr früh Erfolg hatten und in der NS-Zeit eine „Expansionspolitik“ in Oldenburg geherrscht habe.
Obwohl Tantzens Plan am Schluss auch selbstständige Stadtstaaten in Hamburg und Bremen vorsah, blieb er in der entscheidenden Sitzung des Zonenbeirats ohne eine einzige Stimme, denn Tantzen durfte in der Sitzung nur beratend dabei sein. Kopfs Plan erreichte mit 16 Stimmen eine klare Mehrheit, die von SPD-Chef Kurt Schumacher vorgeschlagene Variante, Niedersachsen und Schleswig-Holstein zu nur einem Land zusammenzuschmieden, bekam neun Stimmen.
Das war die wichtige Vorentscheidung zur Gründung Niedersachsens, wobei Kopfs Konzept an der Grenze zur NRW noch abgerundet wurde. Hier wirkte sich das geschickte Wirken des lippischen Ministerpräsidenten Heinrich Drake (SPD) aus, der hart für seine Region verhandelte – und mit der Regierung in Düsseldorf schließlich handelseinig wurde. NRW-Ministerpräsident Rudolf Amelunxen (SPD) war offenbar zu mehr Zugeständnissen ihm gegenüber bereit als Kopf. Schließlich wurde auch Detmold neuer Sitz des mit Minden vereinigten Regierungsbezirks, und Drake selbst wurde dort neuer Regierungspräsident. Im Gegenzug bekam NRW den Zuschlag.
Oldenburg und Schaumburg-Lippe votierten für Unabhängigkeit
In Oldenburg und in Schaumburg-Lippe kam es Jahrzehnte später, 1975, zu Volksabstimmungen – und die, die sich daran beteiligten, votierten mit großer Mehrheit für die Rückkehr zur Selbstständigkeit. Allerdings lag die Beteiligung jeweils unter 50 Prozent. Die Politik in Bonn ging nicht weiter auf diese Meinungsäußerung der Bevölkerung ein, man vertröstete sie auf das Großprojekt „Neuordnung der Bundesländer“. Dieses wurde seinerzeit intensiv diskutiert – aber seither nie ernsthaft angepackt. (kw)