„Von hier geht eine Wende in der NS-Aufarbeitung aus“
Sprecher aller vier Landtagsfraktionen sind hoch zufrieden mit einer neuen Rechtsauffassung, die im vergangenen Jahr vom Landgericht Lüneburg festgelegt und vor wenigen Wochen nun vom Bundesgerichtshof bestätigt worden ist: Bei der Aufarbeitung von NS-Verbrechen sind nicht mehr nur diejenigen schuldig wegen Beihilfe zum Mord, denen man eine konkrete Beteiligung an der Ermordung eines oder mehrerer Menschen nachweisen kann. Auch diejenigen, die etwa in NS-Vernichtungslagern „eine Tötungsmaschinerie am Laufen gehalten“ haben, werden belangt. Deshalb ist der KZ-Wachmann Oskar Gröning wegen Beihilfe zum Mord in dreihunderttausend Fällen zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt worden. Gröning hatte im Konzentrationslager Auschwitz Verwaltungsaufgaben geleistet, er war damit befasst, das Geld der Deportierten zu verbuchen. Außerdem sollte er an der Rampe das Gepäck der ankommenden Gefangenen bewachen – nur deshalb, um den Schein einer vermeintliche Normalität zu wahren.
In einer von den Grünen beantragten aktuellen Debatte sagte Justizministerin Antje Niewisch-Lennartz (Grüne), die Abweichung von der Verurteilung nur unmittelbar beteiligter Täter sei „ein Meilenstein deutscher Justizgeschichte“. Dies gehe nun wiederum von Lüneburg aus, nachdem 1945 der erste Kriegsverbrecherprozess auf deutschem Boden auch in dieser Stadt stattfand. Damals standen Verantwortliche des Konzentrationslagers Bergen-Belsen vor einem britischen Militärgericht. Der Lagerkommandant Josef Kramer und enge Mitarbeiter gehörten zu den 48 Angeklagten, elf Todesurteile wurden verhängt und später in Hameln vollstreckt.
Die Ministerin sagte, sie halte es für richtig, auch einen 94-jährigen gebrechlichen Mann wie Oskar Gröning vor Gericht zu stellen. „Wir müssen alles tun, um das damalige Unrecht aufzuklären und zu ahnden, soweit uns das noch möglich ist. Wir müssen das nicht in erster Linie tun für das abstrakte Postulat der Gerechtigkeit. Wir müssen das für die Opfer tun und ihre Hinterbliebenen.“ Marco Genthe (FDP) sagte, im Strafverfahren sei ein konkreter Nachweis der Tatbeteiligung unverzichtbar – aber klar sei auch, dass die Tätigkeiten von Gröning als Beihilfe zum Mord gewertet werden könnten. Das bedeute nun nicht, dass jeder, der in Auschwitz Dienst tat, auch zu den Mittätern an den Morden gelten könne. Helge Limburg (Grüne) zeigte sich zufrieden, dass mit dem aktuellen Urteil ein langes Kapitel der NS-Belastung der Nachkriegsjustiz beendet worden sei. Andrea Schröder-Ehlers (SPD) meinte, nun sei es nicht mehr möglich, sich „hinter den NS-Machthabern zu verstecken“, denn jeder trage die Verantwortung für sein Handeln. Björn Thümler (CDU) forderte einen „gesellschaftlichen Diskussionsprozess“: Antisemitismus dürfe nicht geduldet werden, heute so wenig wie früher, und über den Umgang mit Tätern müsse debattiert werden. Beeindruckend sei für ihn, dass eine Auschwitz-Überlebende im Gerichtssaal bereit gewesen sei, dem Angeklagten Gröning zu verzeihen – da sie die Opferrolle habe endlich verlassen können.Dieser Artikel erschien in Ausgabe #228.