Verein afrikanisch stämmiger Niedersachsen kämpft gegen Genitalverstümmelung
Die Frau nimmt ihre kleine Tochter lieber nicht mit in den Heimaturlaub im Sudan. „Ich kann sie dort nicht schützen“, erklärt sie. Schützen vor einer Tradition, die als Menschenrechtsverletzung geächtet ist und in Deutschland unter Strafe steht – und die trotzdem in einigen Ländern Afrikas das Leben so gut wie der ganzen weiblichen Bevölkerung überschattet. Weibliche Genitalverstümmelung (englisch abgekürzt FGM/C für „Female Genital Mutilation/Cutting“) bedeutet in jedem Fall die Amputation der Klitoris-Eichel. Die Weltgesundheitsorganisation unterscheidet vier Typen, im extremsten Fall ist am Ende die Vulva von Narbengewebe verschlossen. Die Folge sind lebenslange Schmerzen, eine natürliche Geburt ist in vielen Fällen nicht möglich. Das Projekt „Elikia“ (zu Deutsch: „Hoffnung“) des Vereins „baobab – zusammensein e.V.“ unterstützt betroffene Frauen in Niedersachsen und will Fachleute im Gesundheitswesen, in Schulen, Kindergärten und Ämtern für das Thema sensibilisieren.

„Wir sind vor zehn Jahren bei der HIV-Prävention auf das Thema gestoßen“, berichtet Projektleiter Kass Kasadi bei einer gemeinsamen Veranstaltung mit der Friedrich-Ebert-Stiftung. Erschüttert über das Ausmaß des Leids, widmet der Verein den Schwerpunkt seiner Arbeit seitdem den betroffenen Frauen. Mit Hilfe zahlreicher, oft selbst verstümmelter Multiplikatorinnen ist „Elikia“ unter afrikanisch stämmigen Frauen in der Diaspora vernetzt. „Wir gehen davon aus, dass ein Drittel der Afrikanerinnen in Niedersachsen von FGM/C betroffen sind“, sagt Kasadi. Rund 7000 Fälle seien dem Verein bekannt, knapp 5000 Frauen und Mädchen davon erreichen sie mit ihren Angeboten. „Die Zahl der bekannten Fälle steigt, weil Frauen inzwischen häufiger darüber sprechen“, erklärt der Projektleiter. Seit 2024 unterstützt das Sozialministerium die Arbeit des Vereins mit jährlich 155.000 Euro.
Claudia Schüßler, sozialpolitische Sprecherin der SPD-Landtagsfraktion, macht darauf aufmerksam, dass schätzungsweise 1300 Mädchen im Land in Gefahr sind, ebenfalls der grausamen Tradition unterworfen zu werden – besonders dann, wenn sie das Herkunftsland ihrer Familie besuchen. Das Sozialministerium gibt einen sogenannten „Schutzbrief“ für den Heimaturlaub heraus, in dem in zahlreichen Sprachen erklärt ist, dass FGM/C in Deutschland bestraft wird – auch dann, wenn die Tat im Ausland passiert ist. „Aber es werden kaum Fälle verurteilt“, schränkt Schüßler ein. Der einzig wirksame Schutz sei, die gefährdeten oder bereits verstümmelten Frauen und Mädchen nicht abzuschieben. Doch in der Praxis wird ihnen oft nicht geglaubt. Obwohl in Somalia fast alle Frauen von FGM/C betroffen seien, berichtet Schüßler von einem Fall, in dem der Richter genau nachgewiesen haben wollte, dass das auch für die Heimatregion dieser Frau gelte.
Die Beschneiderin war froh, die Schreie der Mädchen nicht mehr hören zu müssen.
„Sie können sich nicht vorstellen, wie schwer es ist, einen kompetenten Gutachter zu finden“, erzählt Nadine Ngantcha vom Verein „baobab“. So habe ein Gynäkologe einer klitorisamputierten Frau bescheinigt, der Eingriff habe „keine Auswirkung auf ihre Gesundheit“. „Das zeigt, dass der Kollege das Klitoris-Organ gar nicht verstanden hat“, pflichtet Dan mon O’Dey ihr bei. Der Chirurg hat eine Methode entwickelt, die Klitoris vollständig und empfindungsfähig wiederherzustellen und gilt weltweit als Experte auf diesem Gebiet. Aufbau und Funktionsweise des Organs, erklärt er, werden gerade erst Lehrstoff im Medizinstudium. Dabei gibt es einen naheliegenden Vergleich: „Niemand würde auf die Idee kommen, bei Männern die Peniseichel zu amputieren.“
Bei Reisen in afrikanische Länder hat mon O’Dey versucht herauszufinden, warum Gesellschaften ihren Kindern so etwas antun. „Ich hatte ein super Gespräch mit einer Beschneiderin, die sich zur Ruhe gesetzt hat“, berichtet er. Als Heilerin und Hebamme war sie eine angesehene Person im Dorf – und die Verstümmelung der Mädchen gehörte eben auch zu ihren Aufgaben. Aber jetzt war sie froh, deren Schreie nicht mehr hören zu müssen. Frauen, folgert der Arzt, sind in diesen Gesellschaften nicht in der Position, andere Frauen schützen zu können. Oft halten die Mutter, Tanten oder andere vertraute Personen das Mädchen bei der Tat fest – ein schlimmer Bruch des Vertrauensverhältnisses. Sie tun das, weil sie fürchten, dass das Mädchen sonst keinen Mann findet und wirtschaftlich nicht abgesichert ist.

„FGM/C wird für die Männer gemacht. Es geht um Macht und Kontrolle“, erklärt Nadine Ngantcha. Die Väter allerdings wissen oft gar nicht so genau, was ihren Töchtern angetan wird. „Das ist unser Ansatzpunkt“, sagt die Expertin. „Wir müssen die Väter in die Prävention einbeziehen.“ Genitalverstümmelung, erklärt sie, betrifft nicht nur Bevölkerungsschichten, in denen eine Frau auf die Versorgung durch einen Mann angewiesen ist. „Die Polizistinnen, die Richterinnen sind auch beschnitten.“ Sie halten die Schmerzen und die Einschränkung der Lebensfreude für einen normalen Teil des Frauseins. Von ihnen sei kaum Schutz für die nächste Generation von Frauen zu erwarten. Dan mon O’Dey übt scharfe Kritik an seinen ärztlichen Kollegen in Ägypten, die immer häufiger Verstümmelungen im Krankenhaus unter Narkose durchführen. „Wir Mediziner haben einen Eid geschworen, Menschen nicht zu schaden“, mahnt er.
Die Mitarbeiterinnen von Elikia sind direkt in den Landesaufnahmebehörden unterwegs, um betroffenen Asylsuchenden ihre Hilfe anzubieten. Denn wenn die Frauen erst einmal einer Kommune zugewiesen sind, wird es schwierig für sie, vor Ort kompetente Unterstützung zu bekommen, zum Beispiel bei einer Schwangerschaft. Eine Klientin habe tief verletzt zu ihr gesagt: „Ich gehe nicht mehr zum Frauenarzt“, erzählt Nadine Ngantcha. Die Frau verstand zwar seine Worte nicht, beobachtete aber sein entsetztes Gesicht bei der Untersuchung, erlebte, wie er einen Kollegen rief, der sich das auch mal ansehen sollte. Kass Kasadi berichtet von der Odyssee einer Klientin, die einen Gutachter suchte, der ihre Verstümmelung für das Asylverfahren bescheinigt: „Einer schrieb, wegen der Hautfarbe der Frau könne er nichts erkennen.“ Sie musste sich in fünf verschiedenen Praxen vorstellen, bis sie ihr Gutachten bekam – gerade noch rechtzeitig, bevor die Frist ablief.
Damit eine jüngere Generation im Gesundheitswesen kompetenter mit den betroffenen Frauen umgeht, schult Kasadi die angehenden Hebammen an der Medizinischen Hochschule Hannover. Vergeblich suchen die Patientinnen in Niedersachsen nach einem Spezialisten, der eine Rekonstruktion der Klitoris vornehmen kann. Der Chirurg mon O’Dey praktiziert inzwischen in einer Privatklinik in Heidelberg. An seiner früheren Wirkungsstätte in Aachen sei der Operationssaal abgebrannt, berichtet er. Mit einem so speziellen Fachgebiet sei es nicht einfach gewesen, wieder eine Klinik zu finden, wo er arbeiten kann. Das Problem ist, dass er in der Privatklinik keine gesetzlich versicherten Patientinnen behandeln kann. Deswegen bemüht er sich um eine Kooperation mit der Universitätsklinik. Asylbewerberinnen, die in Deutschland noch nicht krankenversichert sind, hilft allerdings auch das nicht.
Dieser Artikel erschien am 27.03.2025 in der Ausgabe #059.
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