20. Mai 2025 · 
TagesKolumne

TagesKolumne: Wie damals bei Kubel?

Eigentlich ist es eine Landtagssitzung wie jede andere, die heute zur Mittagszeit beginnt. Die Landtagspräsidentin begrüßt, alle Abgeordneten nehmen ihre Plätze ein – und die Tagesordnung wird abgearbeitet, Punkt für Punkt. Und doch ist diese heutige Sitzung besonders. Immer dann, wenn die Neuwahl eines Ministerpräsidenten ansteht, ist die Aufregung groß – denn diese Wahl ist im Unterschied zu fast allen anderen Abstimmungen im Parlament geheim. Das heißt: Wer immer in den Mehrheitsfraktionen eine Rechnung offen hat mit einem der führenden Leute, kann sie bei dieser Wahl begleichen. Hinterher wird nicht rauskommen, wer wie gestimmt hat. Was ein verpatzter Wahlgang dann bedeuten kann, musste kürzlich erst der neue Bundeskanzler Friedrich Merz erleben, der mit Ach und Krach im zweiten Wahlgang eine ausreichende Mehrheit fand.

Die SPD Niedersachsen hat Olaf Lies einstimmig für das Amt des Ministerpräsidenten nominiert. | Foto: Kleinwächter

Und Olaf Lies? Er muss die Stimmen der „Mehrheit der Mitglieder des Landtags“ erhalten, also mindestens 74 Ja-Stimmen. Wenn acht Abgeordnete von SPD und Grünen nicht für ihn votieren und aus der Opposition auch niemand, dann wäre Lies im ersten Wahlgang nicht gewählt. Das wäre kein Skandal, aber es würde ihm zum Anfang einen Dämpfer verpassen, so wie es bei Friedrich Merz vor wenigen Tagen auch der Fall war. Problemlos könnte man im Landtag noch am gleichen Tag den nächsten Wahlgang ansetzen, wenn keine Fraktion widerspricht. Ein Schaden wäre es dennoch. In Niedersachsen sitzt gerade bei der SPD die Angst vor einer solchen Entwicklung aber sehr tief. Wie sagte am Wochenende Parteichef Lars Klingbeil zu vorgerückter Stunde als Ratschlag an Lies: „Mach‘ das bitte im ersten Wahlgang!“ Wer unter den Genossen bis dahin keinen Bammel hatte vor diesem 20. Mai – dann nach dem wohl leichtfertig gesprochenen Wort von Klingbeil bestimmt.

Beide traten mit 66 Jahren ab, um ihrem Nachfolger Platz zu machen: Stephan Weil (links) und Alfred Kubel. | Fotos: Niedersächsische Staatskanzlei/Rainer Jensen, Autogrammkarte

Woran liegt die Angst vor der geheimen Wahl bei der SPD Niedersachsen? Es gibt historische Gründe. Es war Ministerpräsident Alfred Kubel, der im Januar 1976 mit 66 Jahren zur Mitte der Wahlperiode zurücktrat, um einem Nachfolger Platz zu machen. So ist es jetzt wieder: Der 66-jährige Stephan Weil tritt ab, auch in der Mitte der Wahlperiode. Damals, 1976, waren die Mehrheiten für die SPD/FDP-Koalition allerdings denkbar knapp, und in geheimer Wahl hatte der CDU-Kandidat Ernst Albrecht mehr Stimmen als der Bewerber der Koalition, Helmut Kasimier. Bundesweit erregte der Vorgang große Aufmerksamkeit, am Ende setzte sich Albrecht nach mehreren Wahlgängen durch – mit Hilfe von Überläufern von Sozialdemokraten oder Freidemokraten. Der damalige Beginn der „Ära Ernst Albrecht“ wirkte gerade für viele in der SPD wie ein Trauma, das erst nach 14 Jahren durch den Wahlsieg von Gerhard Schröder wieder gelöst wurde. In all den Jahren kreiste vieles um die Frage: Wer waren die Überläufer?

Diesmal ist Lies einziger Kandidat, die CDU hat ihren Vorsitzenden Sebastian Lechner nicht als Gegenkandidaten aufgestellt – womöglich auch, um nicht die Zustimmung der AfD-Abgeordneten für ihn zu riskieren. Die Wahrscheinlichkeit, dass der Landtag knapp 50 Jahre nach dem Kubel-Rücktritt im Zuge des Weil-Rücktritts die Wiederholung dieses Debakels von 1976 erlebt, ist also sehr gering. Und trotzdem: Die Nervosität spürt man überall und ständig, das Knistern merkt man förmlich, wenn man sich auf den Fluren des Landtags bewegt.

Die Themen im Rundblick von heute kreisen – teilweise – auch darum:

  • Neuer Fraktionsvorstand gewählt: Stefan Politze (59) ist zum neuen Chef der SPD-Landtagsfraktion gewählt worden. Der frühere Rechtsanwalt- und Notargehilfe kommt in sein Amt genau 16 Tage vor seinem 60. Geburtstag.


  • Rote Zahlen in Steuerschätzung: Die neue Steuerschätzung verheißt nichts Gutes für Niedersachsen, es fehlen hohe Beträge.


  • Landessynode: Im Parlament der evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers wurde viel über die Missbrauchsfälle in der Kirche gesprochen – und über die Verantwortung dafür. Niklas Kleinwächter analysiert die Debatte.

Noch ein paar Abschiedsworte für Stephan Weil, der mit dem heutigen Tage nicht mehr Ministerpräsident ist. Er wird sich darauf einstellen müssen, schon bald nicht mehr im Scheinwerferlicht zu stehen und anderen die Bühne zu überlassen. Ja, es stimmt – in den zwölf Regierungsjahren hätte er viel mehr reformieren, gestalten und anschieben müssen. Aber im Rückblick überwiegen trotzdem die guten Seiten. Weil hat, wie alle Spitzenpolitiker, auf dem Weg nach oben auch Konkurrenten zur Seite schieben müssen. Doch er hat die Verlierer dabei nie aus dem Blickfeld verloren. Weil hat das Land umsichtig, kenntnisreich und verlässlich regiert, er war ein hervorragender Repräsentant des demokratischen Systems. Wenn man später auf seine Zeit schaut, wird man sagen können: Es bleibt ein angenehmer Eindruck zurück. So etwas lässt sich bei weitem nicht über alle Politiker behaupten.

Von dieser Stelle: Alles Gute, Stephan Weil!

Klaus Wallbaum

Dieser Artikel erschien in Ausgabe #093.
Klaus Wallbaum
AutorKlaus Wallbaum

Artikel teilen

Teilen via Facebook
Teilen via LinkedIn
Teilen via X
Teilen via E-Mail
Alle aktuellen MeldungenAktuelle Beiträge
Innenministerin Daniela Behrens und Verfassungsschutzpräsident Dirk Pejrilstellen den Verfassungsschutzbericht für 2023 vor.  | Foto: Kleinwächter
Sind Klima-Aktivisten keine Verfassungsfeinde? Grüne preschen mit Reformvorschlag vor
18. Mai 2025 · Klaus Wallbaum3min
Nach der Steuerschätzung: Heere spricht von einer „sehr ernsten Lage“ der Landesfinanzen
19. Mai 2025 · Klaus Wallbaum3min
Ministerpräsident Olaf Lies gibt im Landtag seine erste Regierungserklärung ab. | Foto: Link
Mehr Digitalisierung und Cyber-Abwehr: Lies setzt in Regierungserklärung neue Akzente
20. Mai 2025 · Klaus Wallbaum3min