Manche hatten bisher die These vertreten, dass Stephan Weil den Ehrgeiz habe, die längste Amtszeit eines niedersächsischen Ministerpräsidenten zu vollenden. Wenn das so gewesen wäre, hätte er tatsächlich noch bis zum Ende der Wahlperiode 2027 im Amt bleiben müssen – denn dann wären die 14 Jahre voll gewesen, und er hätte Ernst Albrecht tatsächlich überrundet. Aber Weil hat sich anders entschieden, er hört vorzeitig auf und plant die Übergabe an Olaf Lies, seinen designierten Nachfolger.

Sturmfest und erdverwachsen: Stephan Weil. | Foto: StK/Mohssen Assanimoghaddam

Ermüdung, Abnutzung, Lustlosigkeit? Das hat man ihm zuweilen angemerkt, aber dann wieder trat er zuversichtlich auf, war zu Scherzen aufgelegt und repräsentierte gekonnt. Weil ist ein Meister des öffentlichen Auftritts. Die Leute meinen, ihn zu kennen wie einen guten Nachbarn, denn er erscheint ja so natürlich und unkompliziert. Nicht packende Reden sind sein Markenzeichen, diese wirken manchmal sogar etwas langatmig und schönfärbend, manche sagen: langweilig. Selten sind feurige Gedanken dabei, die zum Disput anheizen. Aber der Ministerpräsident ist ein guter Landesvater, der den Menschen freundlich und zugewandt gegenübertritt, vor einer größeren Menge selten gehetzt oder unwirsch wirkt, sondern immer interessiert und wie ein Zuhörer und Kümmerer. Außerdem tritt er als personifizierte Gelassenheit auf. Über Weil heißt es, er halte Zusagen ein und sei sehr verlässlich. Auf seinem Weg nach oben musste auch er Konkurrenten ausstechen, zur Seite schieben oder kaltstellen, wie es für jeden Spitzenpolitiker gilt. Aber Weil hat die meisten derjenigen, die auf seinem Weg den Kürzeren ziehen mussten, nie aus dem Blickfeld verloren, er hat die von ihm Verletzten gepflegt. Einer von ihnen ist Olaf Lies, der designierte Nachfolger. Mutmaßungen, Weil wolle Lies als ewigen Kontrahenten im Fortkommen verhindern, bestätigten sich nicht. Dass Weil umsichtig ist und bescheiden, den eigenen Vorteil nicht über alles andere stellt, eilt dem Sozialdemokraten als guter Ruf voraus. In einer Warteschlange würde er sich nie vordrängeln, im Stadion meidet er die VIP-Lounge. Man könnte auch sagen: „Der ist ein anständiger Kerl.“

Nach zwölf Amtsjahren haben so viele Politiker Starallüren oder sie sind unzugänglich geworden, einige auch sarkastisch und angewidert vom täglichen Klein-Klein. Das merkt man bei Weil meistens nicht. Auch er hat Tage mit schlechter Laune oder Momente der großen Ungeduld. Da kann er kräftig austeilen, sein Gegenüber merkt dann, wie sehr ihn die eine oder andere kritische Bemerkung gewurmt hat, oft sind es Kleinigkeiten. Er ist eben doch sehr empfindlich. Aber Weil hat gelernt, solche Gefühlsregungen in der Öffentlichkeit weitgehend zu überspielen. Sigmar Gabriel und David McAllister, um zwei Vorgänger zu nennen, waren dazu weniger imstande. Weil aber ist ein Kontrollmensch, einer, der sich und die anderen, die mit ihm arbeiten, gern unter Beobachtung hält und zuweilen – sehr diskret – eingreift und steuert. Dann kann er intern auch ganz anders sein, viel unwirscher, als man nach dem äußeren Auftreten je vermuten würde. Das erinnert dann an einen anderen Vorgänger, an Christian Wulff.

„Er schafft Distanz zwischen sich und den Problemen.“

Zuweilen macht Weil sich auch gern unsichtbar. Wenn es etwa um die Bewältigung akuter Krisen geht, dann schickt er meist die zuständigen Fachminister vor. „Er schafft Distanz zwischen sich und den Problemen“, hat seine jetzige Stellvertreterin Julia Hamburg mal über ihn gesagt. Umgekehrt gilt aber auch: Wenn es ernste Personalentscheidungen zu treffen gilt, etwa zur Auswahl von Ministern oder anderen leitenden Positionen, dann ist Weil ein Freund einsamer Entscheidungen. Er weiht wenige Vertraute ein, auch nicht immer dieselben, und überrascht am Ende selbst sein engeres Umfeld. Nicht wenige, die meinten, nah an Weil zu sein, sind über die Jahre frustriert zurückgeblieben. Denn sie spürten, dass er auch ihnen nicht so sehr vertraute, wie sie es erhofft hatten. Ein solches Gefühl hinterlässt Enttäuschungen. Meint er denn wirklich, immer alles besser zu wissen? Die Büroleiter-Affäre im Jahr 2024 offenbarte zudem, dass das Image des nüchternen, rein sachlichen Verwalters Kratzer bekommen hat. Ihm wurde vorgehalten, eine Parteifreundin an den anerkannten Regeln vorbei und gegen Widerstände gefördert zu haben. Der Vorwurf, das Recht hier gebeugt zu haben, ließ sich nicht völlig ausräumen. Seither wirkte Weil angeschlagen.

Eines zeichnet Stephan Weil, den gütigen und meistens lächelnden Landesvater, am Ende auch aus: Er ist ein zutiefst misstrauischer Mensch. Und er ist ein Parteisoldat. Es muss schon sehr viel passieren, bevor er die Größe zeigt, öffentlich einen politischen Gegner zu loben. Andererseits: Die bei vielen Politikern zu beobachtende Sünde, sich abfällig über andere zu äußern, auch über Leute im engeren Umfeld, kam bisher bei Weil nicht oder wenn dann nur höchst selten vor. Das wird von den Mitarbeitern dann mit höchster Loyalität honoriert.

Stephan Weil bei der MPK in Berlin. | Foto: Henning Schacht/Hessische Staatskanzlei

Was ist aus Niedersachsen in zwölf Jahren Weil-Regierung geworden? Der überwiegende Teil dieser Epoche fand in wirtschaftlich entspannten Zeiten statt. Daher sind hohe staatliche Investitionen auch möglich gewesen, etwa für die Universitätskrankenhäuser, für den Breitbandausbau und die – immer noch zu langsame – Digitalisierung. Es kamen neue Lehrer und Polizisten, es wurde viel getan zur frühkindlichen Bildung, etwa die Entlastung der Eltern von den Kindergartengebühren. Es wurden zeitweise die Landesschulden etwas zurückgefahren, es kam zum fruchtbaren Dialog zwischen Naturschützern und Landwirten. Zuwanderung und Integration gelangen organisatorisch 2015, auf dem Höhepunkt der Flüchtlingswelle, ebenso wie heute, auf dem Höhepunkt der Vertreibung von Menschen aus der Ukraine. Nicht alles ist reibungslos, aber vieles doch überwiegend gut geordnet. Im Verein schafften Land und Kommunen die Aufgabe. Die Frauenförderung in repräsentativen Ämtern, auch in den Parlamenten und in der Regierung, machte langsame Fortschritte. Wenn es um technische Innovationen im großen Stil ging, etwa bei der Produktion von „grünem Stahl“ in Salzgitter oder beim LNG-Terminal in Wilhelmshaven, dann standen die von Weil geführten Regierungen nicht auf der Bremse, sondern erwiesen sich als verlässliche und kooperative Partner der Investoren. Von daher rührt auch der Ruf der niedersächsischen Sozialdemokratie, sie sei pragmatisch, praxisnah und durchaus wirtschaftsfreundlich. Der ständige Dialog mit Wirtschaftsvertretern und Gewerkschaftern zeichnete den Stil von Weil aus. Immer stärker hat hier schon bisher Olaf Lies die Zügel in die Hand genommen.

„Weil ist zwar ein guter Verwalter, aber kein großer Gestalter.“

Der Vorwurf, Weil sei zwar ein guter Verwalter, aber kein großer Gestalter, stimmt auch. Der Spitzname „Oberbürgermeister von Niedersachsen“ bringt es ganz gut auf den Punkt. Größere Reformen der öffentlichen Verwaltung, die angesichts der bevorstehenden Digitalisierung längst überfällig sind, wurden von Weil nicht nur nicht angestrebt – er hat sie vielmehr selbst ausgebremst. Seine jüngsten Ankündigungen, er habe das Ziel „einfacher, schneller, günstiger“ zur obersten Prämisse erklärt, überzeugten daher wenig. Vor Sparrunden und Kürzungen, so scheint es, weicht er lieber aus. Weil versteht den „starken Staat“, den er vertritt, vor allem auch als einen, der für öffentliche Aufgaben ausreichend Geld bereitstellt. Bislang konnte er das auch stets, da die Kassen immer gut gefüllt waren. Zum „guten Verwalten“ passt auch das sorgfältige Beachten der Regeln und Vorgaben. Wenn etwas aus dem Ruder lief, wie etwa bei der „Vergabe-Affäre“ 2017, dann hat Weil zügig und entschlossen gehandelt. In der Büroleiter-Affäre war es später dann nicht mehr so. Das fehlende Gestalten, die Schattenseite, bezieht sich nicht nur auf die Kernthemen der Landespolitik, sondern auch auf die Bundesebene. So stark sich Weil in die bundespolitische Debatte um die Energiepolitik, die Atommüll-Endlagerung oder um Details der Sozialstaatsreform eingebracht hat, so sehr wurde doch so manches Mal ein starkes Wort aus Hannover vermisst. Gerhard Schröder oder Christian Wulff hatten früher öfter die Gelegenheit genutzt, mit zugespitzten Positionen eine bundesweite Diskussion anzuschieben. Mit Weil wird das seltener in Verbindung gebracht, wohl auch deshalb, weil er als zu vermittelnd, zu differenziert auftritt.

Unterm Strich ist Stephan Weil ein sehr erfolgreicher Ministerpräsident, der seine lange Amtszeit dem Umstand zu verdanken hat, dass er immer sehr geschickt, rücksichtsvoll und umsichtig agiert hat. Hätte er es anders getan, säße jetzt vermutlich ein anderer in der Staatskanzlei. Und wie geht es nach ihm weiter? Olaf Lies, der Wirtschaftsminister, dürfte eine neue Ära prägen. Zwischenzeitlich war auch Innenministerin Daniela Behrens für das Spitzenamt im Gespräch gewesen – doch sie hat derzeit keine Chance. Und wenn man später an die Weil-Zeit zurückdenkt, wird ein Regierungschef in Erinnerung bleiben, der eines ganz besonders gut konnte: Die Rolle des Landesvaters einnehmen, des Kümmerers.