Staatsrechtler raten: Weniger kommunale Selbstverwaltung, aber mehr Klimaschutz ist nötig
Die Städte und Gemeinden in Niedersachsen müssen viel mehr für Natur und Umwelt tun – notfalls auch mal gegen den Willen der Bürger. Das ist die Essenz der 33. Bad Iburger Gespräche, bei denen vorgestern Experten für Staats-, Verwaltungs- und Wirtschaftsrecht mit Kommunalvertretern über Klimaschutz in Kommunen diskutiert haben. Hier sind die fünf wichtigsten Erkenntnisse der Konferenz, zu der die Universität Osnabrück eingeladen hatte:
Klimaschutz ist keine Mehrheitsentscheidung
„Mehrheiten dürfen auch im Verfassungsstaat nicht alles. Bestimmte Belange stehen nicht zur vollen Disposition“, sagte Prof. Gabriele Britz. Die Expertin der Justus-Liebig-Universität Gießen, die dem ersten Senat des Bundesverfassungsgerichts angehört, betonte die hervorgehobene Rolle des Klimaschutzes, der in Artikel 20a des Grundgesetzes als Staatsziel festgeschrieben wurde. „Beim Klimaschutz geht es um eine Gestaltungsaufgabe von größtem Format“, sagte Britz. Der Staat und damit auch die Kommunen hätten deswegen die besondere Aufgabe, den Umweltschutz auch gegen Mehrheitsinteressen zu verteidigen und durchzusetzen. „Das ist verfassungsrechtlich nichts Besonderes, auch die Grundrechte kommen gegen Mehrheiten zum Einsatz“, erläuterte die Expertin für Öffentliches Recht und Europarecht. Sie sagte aber auch: „Wenn die Bürger nicht mitziehen wollen, ist die grüne Transformation praktisch nicht durchsetzbar.“
Britz sieht daher einen „verfassungsrechtlichen Auftrag“ an die Politik, für den Klimaschutz zu werben. „Es wird viel echte Überzeugungsarbeit in der Sache benötigt. Das kostet Zeit und Kraft“, räumte die Verfassungsrichterin ein und bemängelte, dass die Kommunen dabei „in hohem Maße im Ungewissen agieren müssen“. Dass Städte, Gemeinden und Landkreise selbst entscheiden dürfen, wie viel sie zum Klimaschutz beitragen wollen, stärke zwar die kommunale Selbstverwaltung. Aus Sicht der Verfassungsrichterin wäre es aber zielführender, wenn Bund und Länder die Kommunen dabei mehr an die Hand nehmen. „Die Kommunen sind erheblich gefordert und vielleicht auch überfordert, wenn es keine klareren gesetzlichen Vorgaben gibt“, sagte die Verfassungsrichterin.
Klimaschutz muss Vorrang haben
„Das Ziel des Klimaschutzes muss bei Planungen fast uneingeschränkten Vorrang vor allen anderen öffentlichen oder privaten Belangen genießen“, forderte der Osnabrücker Rechtswissenschaftler Prof. Thomas Groß. Er berief sich dabei auf das klassische Schema, nach dem sich das Gewicht eines Belangs nach dessen globaler Bedeutung bemesse. Groß sieht es als unstrittig an, dass Hitzewellen, Überschwemmungen, Dürren und steigende Meeresspiegel als Folge des Klimawandels die schwerwiegendsten Auswirkungen haben. Zudem gebe es eine finanzielle Dimension: Weil der CO2-Emissionshandel für Deutschland immer teurer wird, müssten die Auswirkungen auf das nationale Treibhausgasbudget bei jeder Entscheidung berücksichtigt werden. Der Juraprofessor räumte ein, dass es für die Kommunen ein „unzumutbarer Aufwand“ wäre, wenn sie etwa die zu erwartenden CO2-Emissionen eines Neubaugebiets bis ins kleinste Detail durchrechnen müssen. „Das kann aber kein Vorwand zur Untätigkeit sein“, sagte Groß. Man müsse zumindest mit Schätzungen arbeiten, um die Belastung des Emissionsbudgets ungefähr einordnen zu können.
Auch der Osnabrücker Jurist sagte: „Konsequenter Klimaschutz überfordert die herkömmliche Kommunalpolitik.“ Er forderte deswegen „quantifizierbare Vorgaben“ für die Kommunen und bezeichnete das Niedersächsische Klimagesetz (NKlimaG) als „auch in der neuen Fassung sehr zurückhaltend“. „Das stärkt die kommunale Selbstverwaltung. Ob damit auch die Dringlichkeit des Klimawandels betrachtet wird, darf bezweifelt werden“, sagte Groß. Wie konsequenter Klimaschutz aussehen würde, machte er am Beispiel der Flächenversiegelung deutlich. Neubauten dürften eigentlich nur noch in Ausnahmefällen erlaubt werden – etwa für dringend notwendige Krankenhausneubauten oder für ökologische Modellsiedlungen. Es müsse auch mehr Anreize zur Entsiegelung von Flächen geben. Groß: „Die Städte und Gemeinden müssten verstehen, dass jede Grünfläche ein wertvoller Schatz ist.“
Kommunen brauchen ein Klimaschutz-Controlling
„Es bringt nichts, die Projekte zum Klimaschutz einfach nur aufzuschreiben, wir müssen sie auch messen“, sagte der Braunschweiger Oberbürgermeister Thorsten Kornblum. Am Beispiel der Löwenstadt machte der SPD-Politiker deutlich, wie schwerwiegend die Auswirkungen des Klimawandels schon jetzt auch für urbane Gebiete sind: Seit Jahren erreiche die Jahresmitteltemperatur in Braunschweig immer neue Höhen, zudem häuften sich die Starkregenereignisse. Erst im August habe ein nur 30-minütiges Unwetter im Stadtgebiet hunderte Keller überflutet und gewaltige Schäden angerichtet. „Wir haben in Braunschweig schon 2010 ein Integriertes Klimaschutzkonzept erarbeitet“, berichtete Kornblum. Ende September beschloss der Rat ein „Update“, das die Stadt bis 2030 treibhausgasneutral machen soll. Das „Klimaschutzkonzept 2.0“ sieht nun insgesamt 38 stadtweite Maßnahmen vor.
Der Oberbürgermeister stellte jedoch klar: „Das sind Ziele, die wir aus eigener Kraft nicht erreichen werden. Wenn die Gesellschaft und die Industrie nicht mitmachen, werden wir das nicht schaffen.“ Derzeit seien zwar alle „wesentlichen Player“ an Bord, man müsse sie aber auch bei der Stange halten. „Wir berichten jetzt halbjährlich, wie weit wir gekommen sind“, sagte Kornblum. Obwohl der Braunschweiger Haushalt mit einem Volumen von rund einer Milliarde Euro derzeit von vielen Krisen herausgefordert wird, zeigte sich der Oberbürgermeister zuversichtlich. „Rein rechnerisch kann die Treibhausgasneutralität 2030 funktionieren. Jetzt kommt der Praxistest, der mit Controlling-Maßnahmen unterlegt ist.“
Die Menge der Maßnahmen macht’s
„Wir verstehen uns als wachsender Landkreis“, sagte der Landrat Dirk Adomat. Von einem grundsätzlichen Verbot von Neubaugebieten will der Hauptverwaltungsbeamte im Kreis Hameln-Pyrmont deswegen nichts wissen – vor allem, wenn er sich die Grundstückspreise in der benachbarten Region Hannover ansieht. Adomat hält Bevölkerungswachstum allerdings auch ohne großflächige Umweltzerstörung für möglich. „Ich glaube, dass wir das klimaneutral hinkriegen. Wir müssen die bestehenden Bebauungspläne aber auch mal umsetzen“, sagte der Landrat und sprach konkret die sogenannten Schottergärten an. „Das ist für alle diejenigen, die wiedergewählt werden wollen, nicht gerade ein tolles Thema. Jeder, der einen mit einem Schottergärten kennt, kennt auch noch drei weitere, die noch einen viel größeren haben“, sagte Adomat. Der unerlaubten Bodenversieglung müsse dennoch endlich entgegengetreten werden.
Auch der Landkreis an der Oberweser möchte bis 2030 klimaneutral werden. Mit Klimaschutzagentur, Solarkampagne, Solarportal sowie einem kommunalen Energiemanagement sei man gut aufgestellt. Und über den Erfolg des „Bündnisses Klimaneutrales Weserbergland 2030“ ist Adomat selbst überrascht. „Ich hätte nicht gedacht, dass die Unternehmen sogar Schlange stehen, um Mitglied eines Bündnisses zu werden, das Geld kostet“, sagte er. Die Strahlkraft des Klimaneutralitäts-Labels sei jedoch höher als gedacht. Das Erfolgsrezept für eine gelungene Klimaschutzstrategie besteht für den SPD-Politiker in vielen Einzelmaßnahmen, von denen es im Hamelner Masterplan insgesamt 88 gibt. Adomat: „Ich war viele Jahre lang Imker. Wenn meine Bienen gewusst hätten, dass es sich für jede einzelne nicht lohnt, Honig einzusammeln, hätten die nie was geschafft. Und so muss das auch beim Klimaschutz sein. Jeder muss mit anpacken.“
Beim Schienenausbau muss ein Wunder her
„Wenn Sie heute eine Eisenbahnstrecke bauen wollen, dauert es 25 Jahre, bis sie fertig sind. Wenn wir so weiter machen, werden wir die Verkehrswende niemals hinbekommen“, mahnte Joachim Berends, Vizepräsident des Verbands Deutscher Verkehrsunternehmer und Vorstand der Bentheimer Eisenbahn AG. Den Verkehrssektor bezeichnete er als eine „Achillesferse des Klimaschutzes“. Innerhalb von 30 Jahren habe der Verkehr noch überhaupt keinen Beitrag zur Verringerung der deutschen Treibhausemissionen geleistet, obwohl der CO2-Ausstoß bis 2030 um gut die Hälfte verringert werden muss.
79 Millionen Tonnen CO2 müssten noch eingespart werden, davon 24 Millionen Tonnen im Güterverkehr. Um das zu erreichen, will die Bundesregierung den Marktanteil des Schienengüterverkehrs bis 2030 auf mindestens 25 Prozent erhöhen. Das hält Berends für ein nur schwer erreichbares Ziel, für das sich der Gütertransport auf der Schiene verdoppeln müsse. „Wir haben gar nicht genug Bauindustrie, um das umzusetzen“, sagte der Chef des VDV-Verwaltungsrats für Schienengüterverkehr und fügte hinzu: „Das Eisenbahnnetz in Deutschland ist in einem katastrophalen Zustand. Die Infrastruktur ist über viele Jahrzehnte kaputtgespart worden.“
Ganz aussichtslos sei die Lage jedoch nicht. Berends präsentierte zahlreiche Maßnahmen, mit denen sich die Kapazitäten beim Gütertransport auf der Schiene steigern lassen. Die meisten Forderungen richten sich zwar an den Bund, aber auch die Unterstützung von Land und Kommunen ist gefragt – etwa beim Trassenneubau, bei der „Elektrifizierung der letzten Meile“, dem Kampf gegen Lohn- und Sozialdumping oder der Vernetzung von Lastwagen- und Schienenverkehr. „Wir müssen der Straße an vielen Stellen ein Angebot machen, wo sie intelligent auf die Schiene wechseln kann“, sagte Berends.
Dieser Artikel erschien am 04.11.2022 in der Ausgabe #195.
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