Das Thema teilt die Geister, treibt Menschen auf die Straße und lässt gleichzeitig andere verzweifeln, die sich eine sehr viel entschlossenere Corona-Politik von Bund und Ländern wünschen: Sollen die Erwachsenen in Deutschland verpflichtet werden, sich gegen eine Covid-Erkrankung impfen zu lassen? Die Rundblick-Redaktion widmet sich dem Thema in einem Pro und Contra.

Pro: Wenn die Corona-Pandemie wirklich so gefährlich ist, wie viele Virologen und etliche Politiker seit Jahren betonen, dann ist die Impfpflicht nur konsequent: Es geht darum, die Menschen zu schützen, die gesellschaftlichen Strukturen und das öffentliche Leben aufrecht zu halten. Das ist die wesentliche Verpflichtung des Staates, dieser muss er gerecht werden, meint Klaus Wallbaum.

Die Frage nach der Impfpflicht, die derzeit so heftig in der Bundesrepublik diskutiert wird, ist im Grunde nichts anderes als die Frage danach, wie wir unseren Staat sehen. Soll die Politik das Recht bekommen, weitgehend in die Freiheitsrechte seiner Bürger einzugreifen? Entspricht das unseren Werten und Traditionen? Vermutlich wird die Antwort in China anders ausfallen als in den USA, in Italien anders als in Deutschland. Dabei ist die Wirkung des Virus in all diesen Ländern gleich, die Gefahren für Leib und Leben der Bewohner sind es also auch. Hat die Debatte darüber, was der Staat seinen Bürgern zumuten darf, doch mehr mit einem philosophischen Ansatz zu tun als mit einem gesundheitspolitischen? Vermutlich. Dennoch oder gerade deshalb sollte die Pflicht jetzt endlich kommen. Aus folgenden drei Gründen:
Erstens: die Grenzen der Juristerei. Wenn man die öffentliche Diskussion verfolgt, überwiegt die rechtliche Würdigung. Dabei geht es vor allem um den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Einschränkungen in das Recht der körperlichen Unversehrtheit, und um diese handelt es sich bei einer Impfpflicht zweifellos, müssen zur Erreichung eines überragenden Zieles geeignet, erforderlich und angemessen sein. Das „überragende Ziel“ ist der Schutz der Bevölkerung vor einer schweren oder gar tödlichen Erkrankung, außerdem die Sicherung des Gesundheitssystems vor Überlastung. Auch das Aufrechthalten des öffentlichen Lebens kann genannt werden – wenn viele Leute erkranken (oder aber: wenn viele Leute in Quarantäne müssen), kann das lebenswichtige Sektoren lahmlegen. Nun kann die juristische Prüfung zu dem Resultat kommen, dass die Impfung nicht geeignet ist, etwa wegen der mangelhaften Erforschung ihrer Neben- und Langzeitwirkungen. Auch die Erforderlichkeit und Angemessenheit kann in Zweifel gezogen werden, sofern man zu dem Schluss kommt, dass Testungen von Ungeimpften mindestens ebenso sicher anzeigen können, ob jemand das Virus verbreitet oder aber nicht. Auch Hinweise, dass geimpfte Personen weiter Überträger des Virus sein können, bieten die Basis für Einwände gegen eine Impfpflicht. Die Abwägung ist Aufgabe der Gerichte, und tatsächlich gibt es Hinweise, dass die allgemeine Impfpflicht vor dem Bundesverfassungsgericht möglicherweise keinen Bestand haben könnte. Dieses Risiko muss die Politik eingehen.
Die Diskussion über die Impfpflicht dümpelt dahin, der Kanzler hält sich zurück und entwickelt keinen eigenen Vorschlag, er wirkt blass und führungsschwach.
Klaus Wallbaum
Zweitens: die Schutzpflicht des Staates. Die Politiker dürfen sich von möglichen juristischen Niederlagen nicht abschrecken lassen. Sie dürfen nicht den Eindruck erwecken, sie nähmen ihre wichtigste Aufgabe nicht ernst – die Bürger vor Gefahren zu schützen. In der Omikron-Variante erscheint das Virus derzeit zwar milder und beherrschbarer als je zuvor. Aber niemand weiß, ob nicht im Herbst eine ebenso ansteckende, aber weitaus gefährlichere nächste Variante auf uns wartet. Damit diese uns nur wenig bedroht, ist ein möglichst großer Anteil an Geimpften in der Bevölkerung notwendig, und der Weg dahin führt über die Impfpflicht. Denn die Impfung vermindert nach Expertenmeinung die Gefahr einer Erkrankung und der Weitergabe des Virus. Wenn die Corona-Pandemie so ernst ist, wie es maßgebliche Politiker etwa der Bundesregierung immer wieder betonen, dann müssten sie vehement für die Impfpflicht streiten und diese auch schleunigst einführen – etwa so, wie es in Österreich schon geschehen ist.
Drittens: die Klarheit des Krisenmanagements. Gerade in Krisenzeiten ist zu erwarten, dass die verantwortlichen Politiker im demokratischen Staat schnell und entschlossen handeln – denn die Gefahren können sich ja, wie wir in der Corona-Zeit gesehen haben, rasch zuspitzen. Bund und Länder hatten schon vor der Bundestagswahl nicht vorbildlich agiert und etwa im Sommer 2021 wertvolle Zeit verplempert. Die Hoffnung, die Politiker hätten aus ihren Fehlern gelernt, hat sich leider als verfrüht erwiesen. Die Diskussion über die Impfpflicht dümpelt dahin, der Kanzler hält sich zurück und entwickelt keinen eigenen Vorschlag, er wirkt blass und führungsschwach. Führende Politiker der Ampel faseln über eine „Gewissensentscheidung“ und kaschieren so, dass sich die Koalition intern höchst uneinig ist in dieser Frage. Nur deshalb gibt die Regierung keine Linie vor, wie es in einer Situation wie der gegenwärtigen absolut notwendig wäre. Das ist ein trauriges Bild angesichts der Dramatik dieser bald zwei Jahre dauernden Corona-Krise.
Contra: Wenn die Corona-Pandemie wirklich so gefährlich ist, wie die Experten sagen – und daran habe ich keinen Zweifel – dann hätten wir in Deutschland schon längst eine Impfpflicht gegen Covid-19 einführen müssen. Passiert ist das bekanntlich nicht. Der Staat hat zu lange auf sein Privileg verzichtet, seinen Bürgern beim Gesundheitsschutz klare Ansagen zu machen. Im aktuellen Stadium der Pandemie braucht er jetzt auch nicht mehr damit anzufangen, meint Christian Wilhelm Link.

Zunächst ein kleiner Blick zurück: „Eine zügige Impfung der Bevölkerung ist die Voraussetzung, das Virus langfristig wirksam zu bekämpfen“, teilte die Bundesregierung nach der Ministerpräsidenten-Konferenz am 10. Februar 2021 mit. Also vor einem Jahr. Die Regierungschefs der Länder und Bundeskanzlerin Angela Merkel setzten sich zum Ziel, „vor dem Herbst ein ausreichendes Schutzniveau“ sicherzustellen. Das ist an der mangelnden Impfbereitschaft von mehreren Millionen Bundesbürgern gescheitert. Und zwar nicht überraschend, sondern mit Ansage. Das Ergebnis des Misserfolgs äußerte sich in einem sprunghaften Anstieg der Corona-Todesfälle zum Winter 2021/2022, während diese Entwicklung jetzt aber auch schon wieder am Abklingen ist. Bis eine nun beschlossene Impfpflicht irgendeinen Effekt zeigen könnte, wäre die aktuelle Corona-Welle schon lange vorbei.
„Wahrscheinlich wird am Ende dieses Winters so ziemlich jeder in Deutschland – es wird manchmal schon etwas zynisch genannt – geimpft, genesen oder gestorben sein“, sagte Jens Spahn im November 2021. Für diese Aussage bekam der ehemalige Bundesgesundheitsminister damals von einigen Virologen mächtig Gegenwind. Andere stimmten ihm jedoch auch zu. Und aufgrund der hohen Durchseuchung wegen der Omikron-Variante sieht es so aus, als würden letztere zumindest größtenteils Recht behalten. Es kommen deutlich mehr Menschen mit dem Virus in Kontakt, als es die Spahn-Kritiker noch Ende November erwartet hatten. Eine Impfpflicht, die frühestens im Frühjahr erste Effekte zeigt, käme also vermutlich insgesamt zu spät zum Tragen. Warum also jetzt den sozialen Frieden mit der Einführung einer Impfpflicht gefährden, die auch technisch kaum umsetzbar ist?
Selbst wenn sich die Politik auf entsprechende Zwangsmittel verständigt, um die erbitterte Widerstandshaltung einzelner zu brechen, wäre die Durchsetzung der Impfpflicht eine riesige Herausforderung.
Christian Wilhelm Link
Möglichst unbürokratisch und schlank organisiert wünscht sich Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) die Umsetzung einer Impfpflicht. Aber wie soll das gehen? Unter den Erwachsenen liegt die Impfquote in Deutschland zwar bei immerhin 83,7 Prozent. Das bedeutet aber im Umkehrschluss, dass aktuell 11,3 Millionen Erwachsene nicht geimpft sind. Und zum derzeitigen Zeitpunkt muss man annehmen, dass das bei sehr vielen aus Überzeugung geschehen ist. Es geht also darum, über zehn Millionen Menschen gegen ihren Willen zu einer Impfung zu bewegen. Selbst wenn sich die Politik auf entsprechende Zwangsmittel verständigt, um die erbitterte Widerstandshaltung einzelner zu brechen, wäre die Durchsetzung der Impfpflicht eine riesige Herausforderung. Die Gesundheitsämter sind ohnehin überlastet, die Polizei arbeitet schon jetzt wegen der vielen Anti-Corona-Proteste am Anschlag. Noch mehr Aufgaben, noch mehr Proteste wären kaum zu bewältigen.
Nachdem Deutschland ohnehin zu lange gewartet hat, lohnt es sich, jetzt erstmal abzuwarten. Mit dem Corona-Totimpfstoff des österreichisch-französischen Biotechunternehmens Valneva wird voraussichtlich noch in diesem Quartal ein Mittel auf den deutschen Markt kommen, das auch viele Impfskeptiker akzeptieren können. Zudem lohnt es sich, die Einführung der Impfflicht in Österreich zu beobachten. Ab Mitte März gilt dort eine Impfpflicht für alle Staatsbürger ab 18 Jahre. Die Einhaltung soll mithilfe von Stichproben in der Öffentlichkeit kontrolliert werden. Beim ersten Verstoß werden 600 Euro fällig, die bei einem Einspruch auf bis zu 3600 Euro steigen können. Jeder Ungeimpfte soll aber höchstens viermal im Jahr bestraft werden dürfen. Wir dürfen gespannt sein, wie sich die Situation entwickelt. „Uns kriegt ihr nie“, skandierten vermummte Impfgegner im Dezember bei einer Demo in Wien. Die Lage in Österreich ist sogar noch aufgeheizter als in Deutschland.
Und schon jetzt kann Deutschland von Österreich lernen, wenn es um den Umgang mit Impfskeptikern geht. Die Nachbarrepublik will nämlich auch eine Impflotterie einführen, bei der pro Teilimpfung 500 Euro zu gewinnen sind – sowohl für Neugeimpfte als auch für die Bürger, die sich längst haben piksen lassen. In Deutschland sind zwar auch schon verschiedene Belohnungen für Impfwillige diskutiert worden, aber leider bislang ohne Ergebnis. Eine solche Lotterie könnte auch dabei helfen, den von Bundeskanzler Scholz erwünschten Konsens für die Corona-Impfung zu erreichen. Belohnung ist bekanntermaßen der bessere Anreiz als Strafe.