19. Jan. 2022 · 
Wirtschaft

Qualifikationslücke wächst: Region Osnabrück verliert zu viele Akademiker

Die Region Osnabrück leidet unter Braindrain. Obwohl es dort zwei große Hochschulen gibt, bleiben zu wenig Akademiker nach der Uni-Zeit vor Ort. | Grafik: GettyImages/Cemile Bingol
Anke Schwede ist bei der IHK in der Wirtschaftsregion Osnabrück für die Standortentwicklung zuständig. | Foto: IHK

Osnabrück ist nach Hannover und Göttingen der größte Hochschulstandort in Niedersachsen. An der Universität und der Fachhochschule der Friedensstadt sind zum Wintersemester 2021/22 insgesamt 27.527 Frauen und Männer eingeschrieben – das sind 13,5 Prozent aller niedersächsischen Studierenden. Dennoch finden die Unternehmen im Südwesten des Landes kaum noch genug Arbeitskräfte mit Hochschulabschluss. „Schon heute sind zahlreiche Stellen für Akademiker in der Region unbesetzt. Der regionale Bedarf an Akademikern steigt, in Zukunft droht sogar eine Unterversorgung“, berichtet Anke Schweda, die im IHK-Bezirk Osnabrück-Emsland-Grafschaft Bentheim für Standortentwicklung zuständig ist. Eine repräsentative Befragung unter 109 Mitgliedsunternehmen hat ergeben: Die Wirtschaftsregion droht den Anschluss zu verlieren, denn die Qualifikationslücke wird immer größer.

In Südwestniedersachsen arbeiten zu wenig Akademiker

Der Akademikeranteil unter den sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten im IHK-Bezirk steigt zwar kontinuierlich – allerdings nicht so schnell wie auf Bundesebene. Inzwischen haben 11,3 Prozent der Arbeitnehmer in der Region Osnabrück einen Hochschulabschluss. In Niedersachsen liegt der Akademikeranteil aber bei 13,7 Prozent, im Bundesgebiet sogar bei 17,7 Prozent. Um den Landesdurchschnitt zu erreichen, müssten in der Region rund 10.400 Akademiker zusätzlich beschäftigt werden. Und im Ländervergleich steht Niedersachsen gerade mal auf Rang 11. „Niedersachsen ist dem Schlusslicht Schleswig-Holstein (12,5 Prozent) deutlich näher als den Spitzenreitern Berlin (29,6 Prozent) und Hamburg (25,9 Prozent)“, stellen die IHK-Experten fest.

Bei den Unternehmen in Südwestniedersachsen sind vor allem Absolventen der Studienfachrichtungen „Ingenieurwissenschaften, Informatik“ sowie „Wirtschafts- und Sozialwissenschaften“ gefragt, wie eine Auswertung regionaler Stellenangebote ergeben hat. Die dazu passenden Studiengänge werden zwar an beiden Osnabrücker Hochschulen angeboten. Doch der überwiegende Teil der Absolventen verlässt die Wirtschaftsregion bislang nach dem Abschluss. „Der sogenannte Braindrain ist sehr bedauerlich, da diese Absolventen dem lokalen Arbeitsmarkt prinzipiell zur Verfügung stehen und passende Stellen vor Ort zu finden wären“, sagt Schweda und kündigt an: „Zusammen mit Hochschulen und Wirtschaftsförderern möchten wir deshalb die Position unserer Region im Wettbewerb um ‚die besten Köpfe‘ verbessern.“

Über die Hälfte der Studenten sind Bildungstouristen

Quelle: IHK Osnabrück-Emsland-Grafschaft Bentheim

Bei über der Hälfte der Studenten an den Standorten Osnabrück und Lingen handelt es sich um „Bildungstouristen“ (Hochschule: 53,1 Prozent, Universität: 56,7 Prozent). „Viele Studierende kommen nicht an den Studienort, weil sie immer schon mal nach Osnabrück wollten. Die haben sich auf einen Studienplatz beworben und sind dann hier gelandet“, sagt Uni-Vizepräsidentin Prof. Martina Blasberg-Kuhnke und sieht das als große Chance für die Region. „In dieser Zeit können wir die Studenten dauerhaft für uns gewinnen, weil sie hier gute Erfahrungen machen.“ Wenn es nach der Theologin geht, könnte der Anteil an Bildungstouristen in Osnabrück sogar noch steigen. „Universitäten wollen nicht nur genügend Studierende, sondern auch die besten Köpfe. Es würde uns eher zu denken geben, wenn die Quote geringer wäre als 50 Prozent.“ In München, Hamburg oder Berlin sei der Anteil viel höher, weil die Metropolen auch viel zu bieten haben. Was die Qualität der Studiengänge wie etwa Europäisches Recht, Wirtschaftsinformatik „Cognitive Science“ betriff, kann die Uni Osnabrück laut Blasberg-Kuhnke durchaus mit den Großen mithalten. „Aber touristisch gibt es da mehr zu sehen.“

Quelle: IHK Osnabrück-Emsland-Grafschaft Bentheim

Die Zahl der Studienanfänger und Absolventen ist an den Osnabrücker Hochschulen zwar genauso wie im gesamten Bundesgebiet kontinuierlich gewachsen. „Aber auch die Nachfrage nach Akademikern ist gewaltig gestiegen. Wir haben gerade mal den regionalen Bedarf gestillt“, weiß Prof. Alexander Schmehmann. „Es gibt einige Unternehmen, die das strategisch nutzen. Die strotzen vor Absolventen unserer Hochschule“, sagt der Vizepräsident der Hochschule Osnabrück. Doch das betreffe vor allem die technischen Berufe, wo die Studenten ihre Abschlussarbeit in den Unternehmen anfertigen. „In den Wirtschaft- und Sozialwissenschaften wollen wir die Vernetzung noch verbessern.“

Reicht Osnabrück das Image als "Friedensstadt"?

Wie aber kann die Region Osnabrück attraktiver für Hochschulabsolventen werden?  „Ich glaube, es geht vor allem um das Image einer Stadt“, sagt Schmehmann. Hier gebe es noch viel Luft nach oben, Stadt und Region seien besser als ihr Ruf. „Wofür steht die Stadt Osnabrück? Die Friedensstadt wird bei der Gewinnung von 20-Jährigen nicht wahnsinnig helfen. Da muss es ein gemeinsames Bekenntnis geben, dass man sagt: Ja, wir sind eine Studierendenstadt“, fordert der Dekan der Fakultät Ingenieurwissenschaften und Informatik. Die IHK-Standortbeauftragte wünscht sich deswegen auch zukünftig mehr Ausgeh- und Erlebnismöglichkeiten für Studierende. „Corona ist leider nicht sehr förderlich dafür, dass man sich in seiner Studienstadt wohlfühlt. Und dafür braucht es sozialen Schmierstoff, um den sich auch die Kommunen kümmern müssen“, sagt Schweda. In der Region bestehe der Bedarf nach mehr Veranstaltungen und Veranstaltungsorten, die für Studenten interessant sind. „Wir dürfen nicht nur auf Zahlen gucken. Es geht auch darum, dass jeder junge Mann und jede junge Frau das Spannende an Osnabrück finden“, sagt auch Blasberg-Kuhnke.

Prof. Martina Blasberg-Kuhnke. | Foto: Universität Osnabrück-Simone Reukauf
Prof. Alexander Schmehmann. | Foto: Hochschule Osnabrück

Um die Bindung der Studenten an die Region zu erhöhen, sodass diese im Raum Osnabrück bleiben oder später mal dorthin zurückkehren, gibt es mehrere Ansätze. Zum einen wollen die Hochschulen ihre Praxisnähe verbessern. Einige Unternehmen haben zudem angeregt, flexiblere Studienformen zu entwickeln, damit das berufsbegleitende Studieren leichter wird. Außerdem wollen Hochschulen und Unternehmen mit den jungen Akademikern mehr und besser kommunizieren. „Wir versuchen, zunehmend Kontakt zu Absolventen zu halten. Wir arbeiten daran, eine Alumni-Arbeit aufzubauen“, sagt die Uni-Vizepräsidentin. Es gebe zwar auch schon vereinzelte Angebote. „Was aber noch fehlt ist ein Konzept, das den gesamten Lebenskreislauf der Studierenden in den Blick nimmt. Daran arbeiten wir noch“, sagt Blasberg-Kuhnke.

Muss sich die Friedensstadt Osnabrück als Studierendenstadt neu erfinden? | Foto: GettyImages/Yannic Niedenzu

„Vielleicht ist es das wichtigste, dass wir unsere Kommunikationsstrategie überdenken. Die ist noch ein bisschen zu old school“, sagt auch Schmehmann. Ziel ist es, die Studierenden noch besser darüber zu informieren, welche wirtschaftlichen Chancen es eigentlich in und um Osnabrück gibt. „Wir haben nicht so bekannte Unternehmen wie in anderen Regionen, wo große Namen ziehen. Aber wir haben viele Hidden Champions“, sagt Schmehmann. Im IHK-Bezirk sind mit dem Transportunternehmen Hellmann Woldwide Logistics, dem Landmaschinen-Hersteller Krone, dem Stahlproduzenten Georgsmarienhütte Holding, der Bauunternehmensgruppe Köster und dem Kupferspezialisten KME SE sogar einige der umsatzstärksten Unternehmen Niedersachsens ansässig. Die 19 Top-Unternehmen der Region erwirtschaften laut Nord/LB zusammen rund 18,1 Milliarden Euro und beschäftigen rund 79.000 Mitarbeiter.

Dieser Artikel erschien in Ausgabe #010.
Christian Wilhelm Link
AutorChristian Wilhelm Link

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