Pro & Contra: Sollte der Landtag trotz Corona tagen?
Das Land befindet sich im Ausnahmezustand, landesweit werden Veranstaltungen verboten, auch im privaten Bereich sollen sich nicht mehr als 50 Menschen an einem Ort treffen können. Gleichzeitig will der Landtag nächste Woche tagen und den Nachtragshaushaltsplan beschließen – samt einer Neuverschuldung, die eine Milliarde Euro umfassen soll. Ist das der richtige Weg? Die Rundblick-Redaktion streitet darüber in einem Pro und Contra.
PRO: Wir sind nicht im Krieg, und der Landtag ist derzeit nicht daran gehindert, sich zu versammeln. Wenn in Supermärkten, Apotheken und Fabriken noch gearbeitet wird, ist auch den Abgeordneten zuzumuten, eine eintägige Plenarsitzung abzuhalten, meint Martin Brüning.
Auch wenn die Lage ernst ist und Bundeskanzlerin Angela Merkel die Deutschen dazu aufgefordert hat, die Lage auch ernst zu nehmen, verhallen die Appelle der Kanzlerin, der Landesregierungen und der Experten noch viel zu oft ungehört. Die Eiscafés sind gut besucht, auf den Wiesen drängen sich die Leute bei gutem Wetter dicht an dicht und auch an den Supermarktkassen scheinen einigen Zeitgenossen die aktuell empfohlenen Mindestabstände nicht so wichtig zu sein. Manche meinen möglicherweise, mit dem stapelweisen Kauf von Toilettenpapier das Ihre getan zu haben und nun, da im Badezimmer bestens vorbereitet, auf die „soziale Vereinzelung“ verzichten zu können.
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Es ist deshalb nicht erstaunlich, dass am Donnerstag im Sozialausschuss des Landtags große Verwunderung beziehungsweise Verärgerung über das Verhalten einzelner Gruppen im öffentlichen Raum herrschte und die Frage nach einer drastischen Ausgangssperre deshalb immer lauter gestellt wird. Für den Landtag wäre die Situation auf den Straßen ein guter Grund, mit gutem Beispiel voranzugehen. Die Absage der Parlamentssitzung unter Bezug auf Artikel 44 wäre eine Möglichkeit, der Öffentlichkeit deutlich zu machen, dass Versammlungen mit vielen Menschen derzeit vollkommen inakzeptabel sind. In Bremen ließ die Bürgerschaft ihre Sitzungswoche im März bereits ausfallen, und auch Niedersachsen hätte durch diese Variante die Möglichkeit, Abgeordnete sowie Mitarbeiter der Fraktionen und des Landtags zu schützen und ein deutliches Zeichen zu setzen.
Gerade bei jüngeren Zielgruppen dürften Aufrufe bestimmter „Influencer“ auf Instagram wirksamer sein als das Symbol einer ausgefallenen Landtagssitzung.
Auf der anderen Seite werden, natürlich zum Missfallen von Politikern und politischen Journalisten, Sitzungen des Landtags in der Öffentlichkeit nicht so intensiv wahrgenommen, wie einige sich das vielleicht wünschen mögen. Gerade bei jüngeren Zielgruppen dürften Aufrufe bestimmter „Influencer“ auf Instagram wirksamer sein als das Symbol einer ausgefallenen Landtagssitzung. Viel wichtiger ist aber, und hier kommen Politinteressierte und Politiker wieder ins Spiel, dass diese Krise nicht nur eine wichtige Bewährungsphase für die Exekutive ist, sondern auch für die Legislative.
Entscheidungen des Krisenstabs sind möglicherweise nicht immer alternativlos, auch wenn sie in diesem Zeitraum manchmal so erscheinen mögen. Nicht alle Erlasse und Gesetzespläne der Landesregierung, die im Zusammenhang mit der Corona-Krise stehen, mögen ausreichend und sinnvoll sein. An dieser Stelle ist ein starkes Parlament gefragt, das die Regierung angemessen kontrolliert und in einer Landtagssitzung die Möglichkeit hat, Fragen aufzuwerfen, Entscheidungen in Frage zu stellen oder aber auch der Regierung den Rücken zu stärken.
Auch wenn einige Experten von einem „Krieg gegen das Virus“ sprechen, so sind wir nicht wirklich in einem Krieg.
„Ist der Landtag durch höhere Gewalt daran gehindert, sich frei zu versammeln (…)“, so beginnt der entsprechende Artikel in der Landesverfassung. Auch wenn einige Experten von einem „Krieg gegen das Virus“ sprechen, so sind wir nicht wirklich in einem Krieg. Wenn die Supermarktkassiererin, die Apothekerin oder – auch wenn dieser Teil des Erlasses mehr als erstaunlich und unverständlich ist – sogar die Friseurin ihre Arbeit fortsetzen kann, so kann auch der Landtag zu einer Sitzung zusammen kommen – erst recht, wenn die Tagesordnung auf einen einzigen Sitzungstag zusammengeschrumpft wurde.
Auch in Fabriken wird größtenteils immer noch gearbeitet. Das Parlament kann deshalb nicht nur aus Symbolgründen Versammlungen absagen. Dabei muss selbstverständlich jedem Abgeordneten, Fraktions- und Landtagsmitarbeiter freigestellt werden, auf eine Teilnahme zu verzichten, um sich selbst zu schützen. Dennoch ist es wichtig, der Bevölkerung eben auch deutlich zu machen, dass unsere Demokratie auch in einer solchen Phase noch funktioniert und das Parlament die Regierung weiterhin kontrolliert. Parallel dazu ist der Vorschlag der Grünen-Fraktion, den Ältestenrat als „Corona-Ausschuss“, der in kürzeren Zeiträumen Entscheidungen der Regierung begleiten könnte, absolut sinnvoll. Das Gremium ist auch dafür gedacht, im Fall eines Notstands als kleines „Ersatz-Parlament“ zu fungieren.
Es ist die Aufgabe des Landtags, den Parlamentarismus so lange wie möglich aufrecht zu erhalten.
Am Ende geht es auch immer um eine Frage der Organisation. In Bremen war noch darüber nachgedacht worden, die Bürgerschaftssitzung in die Stadthalle zu verlegen, wo die Abgeordneten mehr Platz gehabt hätten. Allerdings wäre das in dem kurzen Zeitraum nicht mehr umsetzbar gewesen. Es ist die Aufgabe des Landtags, den Parlamentarismus so lange wie möglich aufrecht zu erhalten.
In Hannover gäbe es zum Beispiel die Möglichkeit, die Sitzung im Kuppelsaal abzuhalten. Mit Veranstaltungen wird man dabei derzeit kaum kollidieren. Es spricht nichts dagegen, diese Möglichkeit für die nächste Sitzung, die erst Mitte Mai stattfinden soll, schon einmal zu eruieren. Sollte die Krise dann immer noch anhalten, sich möglicherweise sogar verschärft haben, müsste dann die Absage einer Sitzung zumindest nicht damit begründet werden, dass für die rechtzeitige Organisation einer Alternative keine Zeit mehr gewesen wäre.
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CONTRA: Die Landesverfassung sieht für den Fall, den wir gerade erleben, eine Ausnahmevorschrift vor. Diese muss man nutzen, dies wäre sogar ein Zeichen von parlamentarischer Stärke, meint Klaus Wallbaum.
Die Ungeduld vieler Politiker, nicht nur in der niedersächsischen Opposition, ist nur zu verständlich. Sie sind es gewohnt, ihre Meinung vor Zuhörern zu vertreten, mit Andersdenkenden eine Debatte zu führen und die Kraft der eigenen Argumente an der Position der anderen zu messen. All das fällt in der Krise aus. Was die Abgeordneten derzeit erleben, ist die in solchen seltenen Zeiten übliche Dominanz der Exekutive: Die Vertreter der Regierung verkünden ihre Notverordnungen zum Schutz vor der Ausbreitung des Corona-Virus, weichen plötzlich vom hehren Ziel des Neuverschuldungsverbotes ab und reagieren auf eine sich andeutende Wirtschaftskrise, deren Ausmaß dramatisch sein kann.
Die einzigen, die darauf öffentlich reagieren, sind die wenigen Journalisten, die in den Pressekonferenzen Fragen stellen. Ausschusssitzungen finden kaum statt, Besprechungen im Landtag sind meist in kleiner Runde und intern. Und dann wurde in den vergangenen Tagen auch noch erwogen, die Plenarsitzung ganz ausfallen zu lassen – und den Abgeordneten die letzte Möglichkeit zu rauben, auf solche schwerwiegenden Ereignisse in einer öffentlichen Debatte reagieren zu können?
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Eine Mehrheit im Ältestenrat setzte sich durch und entschied: Die Sitzung findet statt. Die Argumente der Befürworter sind zunächst nicht von der Hand zu weisen: Die Politiker müssten sich in diesen schweren Zeiten öffentlich zeigen, das Parlament müsse gerade jetzt seine Funktionsfähigkeit unter Beweis stellen, niemals dürfe der Eindruck entstehen, die Abgeordneten wollten vor der Verantwortung kneifen. Und, vor allem: In einer Krise wie dieser sei die Volksvertretung in der Lage zu handeln, das müsse sie auch demonstrieren.
Dieser Selbstbehauptungswille der Parlamentarier ist ehrenvoll und anerkennenswert – vor allem die Haltung, man wolle in einer Gefahrensituation nicht die eigene Gesundheit über die öffentliche Aufgabe stellen. Nur: Darum geht es eben gerade nicht in dieser speziellen Situation. Das Verbot der Menschenansammlungen, das seit einigen Tagen bundesweit gilt und sich sogar auf private Feiern auswirkt, hat nicht diejenigen im Blick, die sich dort nicht mehr versammeln dürfen. Es geht vielmehr um die Verringerung von Übertragungswegen. Mit weniger Sozialkontakten verlangsamt sich die Verbreitung des Virus, die Zahl der Erkrankten steigt also nicht so rasch an, dass die hiesigen Krankenhäuser mit der Versorgung überfordert wären.
Die Politik stellt ihre eigenen Rituale über den Gesundheitsschutz, der allen Bürgern zur gleichen Zeit gravierende Einschränkungen abverlangt.
Wenn man diese Argumentation ernst nimmt, und das sollte man spätestens nach der Ansprache der Kanzlerin, dann darf keine Landtagssitzung mit mehr als 100 Teilnehmern in diesen Zeiten stattfinden. Das gilt auch für alle anderen Landesparlamente und den Bundestag. Geschieht das doch, wie es der Landtag jetzt für den 25. März plant, so ist das ein fatales Signal an die Menschen im Lande: Die Politik stellt ihre eigenen Rituale, hier den Machtanspruch der Legislative gegenüber der Exekutive, über den Gesundheitsschutz, der allen Bürgern zur gleichen Zeit gravierende Einschränkungen abverlangt. Damit entsteht ein nicht geringes Glaubwürdigkeitsproblem.
Noch fragwürdiger wird das Verhalten dadurch, dass der Selbstbehauptungsanspruch der Parlamentarier an dieser Stelle völlig unangebracht ist. In der Landesverfassung, die vom Landtag beschlossen wurde, ist eine Regelung für Fälle, wie wir sie gerade erleben, ausdrücklich vorgesehen. Wenn der Landtag wegen „höherer Gewalt“ nicht zusammenkommen kann, entscheidet an seiner Stelle die Landesregierung per Notverordnung, und zwar mit Zustimmung des Ältestenrates. Später, wenn das Parlament wieder tagen kann, wird dieser Beschluss überprüft und womöglich korrigiert.
Das ist klar und eindeutig und klingt wie geschaffen für die gegenwärtige Situation. Da sich die Politiker weigern, diesen in Artikel 44 klar beschriebenen Weg zu gehen, stellen sie sich selbst ein Armutszeugnis aus. Sie sagen indirekt, dass ihnen der Notstandsfall unangenehm ist und sie die Welt lieber so hätten, wie sie im Moment eben nicht ist.
Wer die eigenen Notstandsregeln im Ernstfall nicht nutzen will, signalisiert nur, dass er ihnen nicht traut.
Aber wer die eigenen Notstandsregeln im Ernstfall nicht nutzen will, signalisiert nur, dass er ihnen nicht traut. Vom Staatsrechtler Carl Schmitt stammt der Satz, dass derjenige der Souverän ist, der über den Ausnahmezustand entscheidet. Nun haben wir die paradoxe Situation, dass das Parlament diesen Ausnahmezustand ignoriert in dem Misstrauen, das eigene Regelwerk für diesen Fall sei womöglich nicht passend.
Dieses Verhalten ist, um an Schmitt anzuknüpfen, alles andere als souverän. Solange wir noch keine modernen Möglichkeiten haben, Parlamentssitzungen per Video-Zuschaltungen und ähnlichem zu gewährleisten, muss daher das Notstandsrecht der Verfassung angewandt werden. Je überzeugter und entschlossener das geschieht, desto besser kommen die Politiker ihrer Aufgabe nach.