15. Mai 2017 · 
Inneres

Plötzlich hat Niedersachsens Landtag ganz viele Fans – auch in Brüssel

Gerade dann, wenn man bewusst wie in alten Zeiten erscheinen will, passiert, was passieren muss: Die gewaltigen Unterschiede werden offensichtlich. Diese Erfahrung hat gestern Abend auch Landtagspräsident Bernd Busemann machen müssen. Er lud ein zum Festakt, der an den 70. Jahrestag der ersten Sitzung des ersten freigewählten Landtags erinnern sollte. Und fast alles, was geschah, sollte so wirken wie im Mai 1947. Die Eingeladenen kamen im reichlich verzierten, aber etwas düsteren Leibniz-Saal des hannoverschen Kongresszentrums zusammen, ganz wie damals. Es wurde Musik der unmittelbaren Nachkriegszeit gespielt, ganz wie damals. Ein Mann in britischer Offizierskleidung gab den Versammelten gute Ratschläge mit auf den Weg, ganz wie damals der Gouverneur Sir Gordon Macready. Seine Rede wurde noch einmal verlesen. Sogar die Speise für die Gäste sollte auf 1947 getrimmt sein – gedämpfter Fisch als Hauptgericht.
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Nur: Es liegen Welten zwischen der Leichtigkeit, mit der die Landtagsverwaltung heute die Mahlzeiten bestellte, und den Umständen, die Busemanns Vorgänger Karl Olfers vor 70 Jahren bewältigen musste. Speisen gab es nur auf Bezugsschein, und Fisch in diesen Mengen konnte man nur mit guten Beziehungen organisieren – wobei dem Parlament zum Vorteil geriet, dass Olfers aus Cuxhaven kam und gute Kontakte in die Hafenstadt pflegte. Als Gegenleistung für die Lieferung nach Hannover bekam der Händler die Genehmigung für zwei Herings-Lagerhallen, über deren Bau, so berichtet Busemann heute, der Landtag dann in seiner zweiten Sitzung abstimmte. So wurde das Wesen der Politik, der Tauschhandel, ziemlich zu Beginn der parlamentarischen Geschichte gleich in eigener Sache praktiziert. Aufgeregt hat sich darüber damals niemand. Ob das heute auch so wäre? Der Festakt des Landtages reiht sich in eine Abfolge von Festveranstaltungen, die im vergangenen Herbst mit der offiziellen Feier zum 70. Geburtstags Niedersachsens startete, einer Feier, die viele in der Rückschau für einen schlimmen Reinfall halten – kühl, abgehoben, geschichtsvergessen, neben der Sache. SPD und CDU zogen in diesem Mai nach, begangen ihre Fraktionsgeburtstage, beides waren große, gefühlvolle Familientreffen. Die FDP folgt noch. Und der offizielle Festakt des Parlaments sollte jetzt ganz anders sein als der Landesgeburtstag vergangenen November, warmherzig, historisch und liebevoll. Drei Reden wurden gehalten, jede klang auf ihre Weise schon ein bisschen außergewöhnlich. Da ist zunächst Busemann, der Landtagspräsident, der voller Demut von den Politikern der Nachkriegszeit spricht, die sich nie hätten vorstellen können, „welche Probleme ihre Nachfolger im Jahr 2017 zu haben glauben“. Die große Not der Nachkriegszeit, der Wiederaufbau, die Integration der vielen Vertriebenen und Flüchtlinge – all das hätten die Politiker der Nachkriegszeit entschlossen angepackt, und dies nötigt Busemann Respekt ab. Er redet voller Hochachtung auch über die Weisheit der britischen Besatzungsmacht, die sich damals ganz bewusst zurückgezogen und der frisch gebildeten Volksvertretung das Heft des Handelns überlassen hatte – nicht ohne die kulturelle Eigenständigkeit der regionalen Landschaften Hannover, Oldenburg, Braunschweig und Schaumburg-Lippe zu betonen und wertzuschätzen. Auch die Rede von Ministerpräsident Stephan Weil ist eine Verneigung – weniger vor den Akteuren des Jahres 1947 als vielmehr vor dem Parlamentarismus an sich. Die repräsentative Demokratie sei eine Staatsform mit bemerkenswerter Stabilität, er wolle die Versammlung der gewählten Abgeordneten „allen anderen politischen Systemen vorziehen“, sagt der Sozialdemokrat Weil, der allen Volksvertretern ausdrücklich dankt: „Sie alle stehen auf den Schultern ihrer Vorgänger.“ Auch die kritische Opposition sei „unverzichtbarer Bestandteil der politischen Ordnung“, sagt der Regierungschef und warnt vor einer „zu großen Distanz zwischen Repräsentanten und Repräsentierten“. Der dritte Vortrag kommt von einem Gast aus Luxemburg, dem EU-Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker, den Busemann als „unseren Freund“ begrüßt und der im perfekten Deutsch vorträgt. Juncker outet sich zunächst als Fan der Fußballmannschaft Eintracht Braunschweig, preist Niedersachsens Weg in den vergangenen 70 Jahren als „große Erfolgsgeschichte“ und nennt dabei vor allem die Integration von 2,4 Millionen Flüchtlingen. „Jede Familie in Niedersachsen war irgendwie mit dieser Leistung betraut“, meint er – und zieht den Bogen zu derzeitigen Diskussionen in der EU, die teilweise zu kompliziert agiere, weil sie „die Nase in alles stecken“ wolle: „Gott sei Dank gab es 1945 die EU noch nicht – sonst hätten wir bestimmt genau vorgeschrieben, was mit den Trümmern in Deutschland geschehen soll“, scherzt Juncker – und wirbt dafür, dass sich der niedersächsische Landtag „so intensiv wie möglich in die Europapolitik einmischt und der EU-Kommission auf die Finger klopft“. In den aktuellen Debatten rät der Kommissionspräsident zu europäischem Selbstbewusstsein: „Großbritannien will aus der EU austreten, nicht umgekehrt – und die Türkei will der EU beitreten, nicht umgekehrt.“ Trotz aller Probleme sei die EU ein wichtiges und großes Zukunftsprojekt. „Wenn ich nicht aus Luxemburg käme, würde ich vor Kleinstaaterei warnen“, fügt Juncker hinzu. So endet der Festakt, der mit der Erinnerung an die Gründung des Landes begann, mit einer europäischen Vision – vorgetragen vom europäischen Regierungschef. Und versöhnlich ist alles auch noch. Der Enkel jenes für das Land so segensreichen Gouverneurs Sir Gordon Macready ist unter den Ehrengästen – ein Gemälde seines Großvaters soll im Landtag hängen, wenn der Umbau des Plenarsaals abgeschlossen ist. Eine Geste der Völkerfreundschaft. (kw)
Dieser Artikel erschien in Ausgabe #91.
Martin Brüning
AutorMartin Brüning

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