10. Sept. 2020 · 
Soziales

Pflegekammer beschäftigt noch die Justiz

Rund 15.000 Pflegekräfte haben sich an der Online-Umfrage zur Pflegekammer beteiligt. Reicht diese Zahl aus, oder ist das eine ungenügende Entscheidungsgrundlage für eine Abschaffung der Kammer? Darum ist wenige Tage nach der Verkündung des Ergebnisses ein Streit ausgebrochen, der auch das Verwaltungsgericht Hannover beschäftigt. Im Sozialausschuss des Landtags sprach SPD-Sozialexperte Uwe Schwarz am Donnerstag Hinweise von Kammerbefürwortern an, die eine Wahlbeteiligung von rund 19 Prozent als nicht repräsentativ ansähen und der Meinung seien, man könne das Ergebnis nicht für die von Sozialministerin Carola Reimann verkündete Abschaffung der Kammer zugrunde legen. Dem widersprach Uwe Hildebrandt aus dem Pflegereferat des Ministeriums. Es seien zwar einige enttäuscht, dass sich angesichts von 78.000 verschickten Fragebögen nur 15.000 Pflegekräfte an der Online-Umfrage beteiligt hätten. Aus rein empirischer Perspektive sei die Befragung aber als repräsentativ anzusehen. Man habe das besprochen sowohl mit der Firma Kienbaum, die die Umfrage organisiert hatte, als auch dem Bonner Institut, das für die Befragung praktisch verantwortlich war. Dort habe man darauf gehofft, dass mindestens 10.000 Pflegekräfte an der Umfrage teilnehmen würden, das sei sogar übertroffen worden. Man werde deshalb wie angekündigt die Auflösung der Kammer einleiten. Sie solle zum schnellstmöglichen Zeitpunkt erfolgen, erklärte Hildebrandt. Der AfD-Landtagsabgeordnete Stephan Bothe warnte vor weiteren Verzögerungen. Er forderte, die Kammer müsse nun bis zum 1. Januar kommenden Jahren aufgelöst sein.
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Die Kammergegner halten ihren Druck auf die Pflegekammer derweil aufrecht. Der Göttinger Anwalt Sven Adam geht im Auftrag eines Mitglieds des Bundesverbands freie Kammern (BFFK) mit einem Eilantrag vor dem Verwaltungsgericht Hannover gegen die Kammer vor. Streitpunkt ist eine Pressemitteilung der Pflegekammer von Montag. Darin hatte Kammerpräsidentin Nadya Klarmann die Meinung vertreten, das Ergebnis der Online-Befragung sei aufgrund der geringen Beteiligung „keine valide Entscheidungsgrundlage gegen die Pflegekammer“. BFFK-Geschäftsführer Kai Boeddinghaus kritisiert, in der Pressemitteilung hätten „die Funktionäre der Pflegekammer zum wiederholten Male ihren eigenen Standpunkt zum vermeintlichen Standpunkt aller in der Kammer zwangsvereinigten Pflegekräfte gemacht“.
Für öffentliche Äußerungen von Kammern gelten Regeln. Anders als Privatpersonen oder Verbände kann sich eine Kammer eben nicht auf das Grundrecht der freien Meinungsäußerung berufen.
Boeddinghaus hält die Äußerung deshalb für rechtswidrig. „Für öffentliche Äußerungen von Kammern gelten Regeln. Anders als Privatpersonen oder Verbände kann sich eine Kammer eben nicht auf das Grundrecht der freien Meinungsäußerung berufen“, so der Verbandschef. Die Kammer habe in dem Fall wohl sogar eher die Mehrheitsmeinung ignoriert. Im Eilantrag heißt es: „Da über die Abschaffung der Antragsgegnerin jetzt debattiert und entschieden wird, kommt der Art und dem Inhalt öffentlicher Äußerungen der Antragsgegnerin jetzt eine erhebliche Bedeutung zu.“ Die Kammergegner befürchten also, dass die Kammer noch Einfluss auf den Weg der Abschaffung nehmen und sich die Lage noch einmal drehen könnte. Das ist angesichts der Gemengelage im Landtag aber sehr unwahrscheinlich. Auch Uwe Schwarz, ein Befürworter des Kammerkonstrukts, betonte im Sozialausschuss noch einmal, dass das Ergebnis der Umfrage für die Große Koalition bindend sei. https://www.youtube.com/watch?v=POBTsMSsniA&feature=emb_title Deutlich wurde am Donnerstag auch, dass viele Fragen zur Abschaffung der Kammer immer noch offen sind. So sprach Hildebrandt zwar von Kosten in Höhe von 3,4 Millionen Euro für Kredite und knapp 4,1 Millionen Euro für die Rückzahlung der Beiträge, die auf das Land zukämen. Auch habe man einen groben Überblick über die Ausgaben der Kammer. Es gebe aber auch Informationen, über die man als Aufsichtsbehörde nicht verfüge, zum Beispiel sei über die Dauer der Mietverträge nichts bekannt. Zeit in Anspruch nehmen dürfte auch die Organisation zahlreicher Einzelheiten, zum Beispiel müsse die Weiterbildungsordnung, für die die Kammer zuständig ist, nahtlos weiter bestehen, und es sei auch Personal nötig, um die Beiträge zurückzuzahlen. Das Landessozialamt werde voraussichtlich eine wichtige Rolle spielen, sagte Hildebrandt. Viele Fragen sind also noch offen, am Donnerstag war klar, dass die Causa Pflegekammer auch noch einmal zum Thema in der Landtagssitzung in der kommenden Woche wird. Die FDP-Fraktion fragt nach den Kosten. „Nach unserer Berechnung wird die Marke von 20 Millionen Euro erreicht“, sagte FDP-Fraktionschef Stefan Birkner am Donnerstag. Er forderte auch eine Debatte über die Folgen für die Interessenvertretung der Pflegekräfte – und ließ Sympathie für das Modell der Gewerkschaft Verdi erkennen, eine „Vereinigung der Pflegenden“ mit freiwilliger Mitgliedschaft zu gründen. Bei der Unterrichtung im Sozialausschuss wurde auch bekannt, dass 60 Prozent der Umfrageteilnehmer nach der grundsätzlichen Entscheidung über ein Ja oder ein Nein zur Kammer, die zu Beginn der Umfrage anstand, auch die anschließenden Fragen auf den Folgeseiten beantwortet haben. Diese Daten sollen jetzt trotz der beschlossenen Abschaffung der Kammer ausgewertet werden. „Auch wenn die Ergebnisse für den Fortbestand der Kammer keinen Einfluss mehr haben, so kann daraus zumindest interpretiert werden, was den Pflegekräften in Niedersachsen wichtig ist“, erklärte Hildebrandt.
Dieser Artikel erschien in Ausgabe #159.
Niklas Kleinwächter
AutorNiklas Kleinwächter

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