Man stelle sich mal vor, Stephan Weil wäre am gestrigen Mittwoch bei der Vorstellung der 100-Tage-Bilanz seiner Regierung in den Räumen des Landtags auf einen Journalisten zugestiefelt, der vorab schlecht über die Performance der Regierung berichtet hatte, und hätte ihn mit Hundekot beschmiert. Undenkbar? Ja! Ein Stephan Weil würde das nie tun. Aber seit vergangenem Sonnabend wissen wir: Sowas kann wohl doch passieren, denn es ist passiert. Nicht im Leineschloss, sondern im hannöverschen Opernhaus ein paar hundert Meter weiter.

Über den Vorgang an sich wurde schon viel geschrieben. Deshalb versuchen wir, die Perspektive von einer etwas weiteren Perspektive einzunehmen. An der „Entschuldigung“ des Ballettdirektors, die er dem NDR gegeben hat, fand ich den letzten Satz bemerkenswert: „Das ist der Preis, wenn man eine Person des öffentlichen Lebens ist. Aber ab einem gewissen Punkt bin ich da anderer Meinung“, sagte Ballettdirektor Marco Goecke. Muss man sich scharfe Kommentare, auch als Person des öffentlichen Lebens, immer gefallen lassen? Meine erste Antwort lautet: Ja, na klar. Zumindest rechtfertigt nichts eine derartig herabwürdigende Tat, wie er sie begangen hat. Exzentrik hin oder her, das geht einfach gar nicht. Und die ersten Reaktionen, in denen er sich nicht mal entschuldigte, verschlimmern den Eindruck noch.
Aber unabhängig davon ist noch eine andere Frage interessant: Wie konnte es am Ende soweit kommen? Glaubt man dem ersten Beitrag, den die Frankfurter Allgemeine Zeitung selbst zu diesem Vorgang veröffentlicht hat, gibt es offenbar eine allgemeine Tendenz in der Kulturwelt hin zu mehr als harschen Reaktionen auf die Kritiken der schreibenden Zunft. Ja, gut, das war ja schon immer kein Zuckerschlecken, könnte man erwidern. Augen auf bei der Berufswahl – gilt ja für beide Seiten. Und ich muss ehrlich gestehen: Ob der Umgangsstil in der Kultur schon immer etwas rauer war, kann ich persönlich nicht beurteilen. Was ich aber, wie viele andere auch, zuletzt beobachten konnte, ist die zunehmende Gereiztheit der Menschen und die damit ansteigende Gefahr von Übersprungshandlungen. Nicht nur im Kulturbetrieb. Das ist keine Rechtfertigung für das Ausrasten, aber vielleicht ein Puzzleteil in der Analyse.
Szenenwechsel: Kürzlich saß ich mit einem früheren Mitarbeiter der hannöverschen institutionalisierten Kulturlandschaft für einen zweistündigen Kaffee-Plausch zusammen. Ihn interessierte, wie die Welt der Politik in Niedersachsen so aussieht und funktioniert. Wie Politiker und Journalisten zueinander stehen. Und er fragte: Schreibt ihr weniger strenge Kritiken, weil der Betrieb so klein ist? Ich dachte nach und antwortete, dass wir hoffentlich in der Sache ausreichend kritisch schreiben. Aber dass die persönliche Nähe, die es im politischen Hannover gibt, auch dazu führt, dass man auf der persönlichen Ebene vielleicht weniger hart kritisiert als es in Berlin der Fall ist. Ich glaube, es geht zivilisierter zu, weil man sich kennt und regelmäßig sieht — man muss sich wortwörtlich hinterher noch in die Augen sehen können.
Zivilisiertheit durch Nähe. Ist es vielleicht das, was wir da überhaupt brauchen? Ich sehe schon die Leserbriefe vor mir, die jetzt mangelnde Distanz zum Gegenstand der Betrachtung vorwerfen. Das meint aber etwas anderes. Man kann ja trotzdem kritisch betrachten und dabei die Möglichkeit der persönlichen Kränkung im Blick behalten. Das Zusammenspiel von Nähe und Distanz hat uns alle in den vergangenen Jahren ja auf besondere Weise berührt: Die Corona-Pandemie hat bei vielen die Nerven freigelegt. Ich habe das an mir selbst einmal auf erschreckende Weise festgestellt. Ich war während einer dieser Lockdown-light-Phasen mit dem Rad auf dem Weg zur Arbeit und wurde dabei zum pöbelnden Radler, weil eine Frau mit ihrem Hund ausgerechnet auf dem Radweg laufen musste. Weit und breit war nichts los in der City, alles leer. Die Reaktion war also völlig übertrieben, ich war nur irgendwie genervt, als ich da entlangfuhr.
Als Person des öffentlichen Lebens muss man (fast) alles aushalten. Als Kulturschaffender, zumal als staatlich subventionierter, muss man journalistische Kritiken hinnehmen. Beides ist Teil desselben Business. Aber vielleicht kann hier der Kulturbetrieb einmal vom Politikbetrieb lernen — wer hätte gedacht, dass es so etwas gibt? Zwar schreiben wir auch mal Theaterkritiken über Plenardebatten, aber das ist doch etwas anderes. Was also können Künstler und Kritiker lernen: dass man sich begegnen muss; dass man sich begegnen können muss. Weder die Kunst noch der Journalismus überleben im luftleeren Raum. Der Journalismus entwickelt sich gerade hin zu einer sehr viel offeneren, transparenteren, reziproken und auf Dialog ausgerichteten Daseinsform. Das Theater kennt diese Öffnung doch ebenso. Vielleicht also sollte dieser Eklat, der das sonst so gemäßigte, mittelmäßige Hannover aufgeschreckt hat, jetzt den Ausgangspunkt einer Neuverhandlung des Wechselspiels von Kritikern und Künstlern werden. Vielleicht muss die krasse Tat nun dazu führen, dass die Spirale des immer Krasseren in Kultur- wie Kritikerszene einmal durchbrochen wird. Eine Bemerkung am Ende noch: Goecke hat mit seinem völlig inakzeptablen Verhalten und seiner äußerst späten Entschuldigung die Chance auf diese Neuverhandlung verspielt. Er muss diese Aufgabe nun anderen überlassen.