NS-belastete Psychiater konnten in Niedersachsen weiter arbeiten
In Niedersachsen konnten nach dem Zweiten Weltkrieg mehrere Psychiater und Gesundheitsbeamte, die zur NS-Zeit hochgradig belastet waren, ihre Tätigkeit ungehindert fortsetzen. Sie wurden teilweise auch gedeckt von Fachleuten im Sozialministerium, die ebenfalls mit dem nationalsozialistischen System verstrickt gewesen waren. Diese Verbindungen führten sogar dazu, dass führende Ärzte, die mit Mordvorwürfen konfrontiert waren, vor juristischen Konsequenzen zunächst geschützt wurden. Diese Ergebnisse einer medizinhistorischen Studie, die vom früheren MHH-Forscher Christof Beyer erstellt wurde, sind gestern in der MHH veröffentlicht worden. Sozialministerin Carola Reimann, die Auftraggeberin der Untersuchung, reagierte entsetzt: „Es ist schockierend, dass Täter aus dem Nationalsozialismus nach 1945 weiter Patienten behandeln durften, als wäre nichts gewesen. Hier haben staatliche Organe versagt.“
Die Studie geht zunächst auf die „Euthanasie“ genannten Mordaktionen der NS-Zeit ein. 1939 wurde in Deutschland die Meldepflicht für geistig und körperlich beeinträchtigte Kinder eingeführt. In sogenannten „Kinderfachabteilungen“ sind dann bis zum Ende des NS-Regimes mehr als 5000 Kinder vergiftet worden oder durch Nahrungsentzug verhungert. Außerdem gab es die sogenannte „T-4“-Aktion, bei der bis 1941 etwa 70.000 behinderte Menschen ermordet wurden – davon 1600 aus der früheren Provinz Hannover. Beyer erläuterte, dass die Justiz nach 1945 anfangs die Verfolgung der Täter vorantrieb, dann aber ab 1949 weitaus zurückhaltender verfahren sei. Über die Neuregelungen zum Schutz des Berufsbeamtentums konnten früher beamtete Ärzte wieder auf ihre alten Posten zurückkehren – und viele Ermittlungsverfahren seien eingestellt worden, da es angeblich „an Nachweisen vorsätzlichen Handelns“ fehlte, die Betroffenen einen „stillen Widerstand“ geltend machten (sie hätten versucht, einige Patienten zu retten) oder die Täter „über die Rechtswidrigkeit ihres Tuns nicht im Klaren“ gewesen seien.
Dass viele belastete Ärzte unentdeckt und unbehelligt blieben, führt Beyer auch darauf zurück, dass die Leiter der Gesundheitsabteilung des Ministeriums in den fünfziger Jahren, Otto Buurmann, Hellmuth Kluck, Oskar Gundermann und Franz Schneweis, als Ärzte in den besetzten deutschen Ostgebieten eingesetzt waren und teilweise eine starke NS-Nähe hatten. Der Psychiatriereferent Johannes Berger soll zu NS-Zeiten den späteren Leiter des Krankenhauses Wunstorf, Hans Heinze, kennengelernt und ihn später unterstützt haben. Heinze zählte als Obergutachter zu jenem Gremium, das nach 1939 die Kinder ausgewählt hat, die danach ermordet wurden. Er wurde vom sowjetischen Militärtribunal verurteilt und ging nach Verbüßung der Strafe 1952 in die Bundesrepublik. Berger soll dafür gesorgt haben, dass Heinze danach raqsch wieder aufstieg und Leiter der Wunstorfer Anstalt wurde. Ein anderer Fall ist der von Willi Baumert, der auch in den Landeskrankenhäusern Wunstorf und später Königslutter in den fünfziger Jahren leitende Funktionen inne hatte. In Lüneburg hatte Baumert zur NS-Zeit eine „Kinderfachabteilung“ geführt, in der zu seiner Zeit mindestens 350 Kinder ermordet worden sein sollen. Gegen Heinze wie Baumert leitete die Justiz der Bundesrepublik in den späten fünfziger und frühen sechziger Jahren Ermittlungen ein – bei Heinze führten sie zur Pensionskürzung, bei Baumert wurden sie verschleppt, das vermutlich mit Billigung des damaligen Sozialministeriums und des Staatssekretärs Hans Reichwaldt. Ihm wurde Vernehmungsunfähigkeit attestiert, gleichzeitig durfte er aber seinen Dienst als Leiter der Klinik Königslutter wieder aufnehmen. Die Spitze des Ministeriums war seinerzeit bemüht, den Fall möglichst unter der Decke zu halten, wie interne Briefe belegen.
Der bundesweit Aufsehen erregende Fall des früheren Euthanasie-Organisators Werner Heyde, der in Schleswig-Holstein aufgeflogen war und dem der Prozess gemacht wurde, hatte offenbar auch die niedersächsischen Behörden seit Ende der fünfziger Jahre skeptischer und kritischer gegenüber belasteten Psychiatern werden lassen. Gegen einen, Ernst Meumann, geschah das schon früher. Er hatte zu NS-Zeiten dafür gesorgt, dass Kranke in seiner Anstalt Königslutter aufgenommen und zur Tötung weitergeleitet wurden. 1950 wollte Meumann auf seinen alten Posten zurück, wurde aber vom Ministerium daran gehindert – man fand eine andere Beschäftigung für ihn als „Sonderbeauftragten für den Aufbau der psychischen Hygiene“. Erwähnt werden in der Studie noch andere belastete Mediziner, die nach 1945 ihre Arbeit fortsetzen konnten – so die niedergelassenen Ärzte Heinrich Bunke in Celle und Klaus Endruweit in Hildesheim, Helene Darges-Sonnemann in Celle, Ernst Wentzler in Hannoversch Münden und Hildegard Wesse in Braunschweig. Belastet waren auch Gerhard Kloos, der im Landeskrankenhaus Göttingen eine leitende Position erhielt, und Hannah Uflacker, die im Gesundheitsamt Hannover eine Anstellung fand. Beide waren zu NS-Zeiten an der Ermordung von Kindern beteiligt gewesen, heißt es in der Studie.Dieser Artikel erschien in Ausgabe #104.