13. Juli 2020 · 
Finanzen

Nie zuvor hat sich das Land Niedersachsen so stark verschuldet

Wie ernst die Zeiten in der niedersächsischen Landespolitik gerade sind, erkennt man nicht nur an den Hygieneregeln, an den Glas-Abgrenzungen im Plenarsaal oder an den vielen Desinfektionsspendern, die überall im Landtagsgebäude stehen. Die Corona-Pandemie, wahrlich eine Naturkatastrophe, hat massive Einschränkungen des öffentlichen Lebens zur Folge. Die Brisanz der Lage sieht man auch an einem Zahlenwerk, über das im Landesparlament morgen nach nur zweiwöchiger Beratung abgestimmt werden soll. Im „zweiten Nachtragshaushalt“ wird die Neuverschuldung des Landes, die nach dem ersten Nachtragsetat bei einer Milliarde Euro liegt, auf 8,7 Milliarden Euro erhöht werden. Wenn die Abgeordneten der Koalition das vermutlich morgen Mittag so beschließen, springt der Schuldenstand des Landes so stark in die Höhe wie noch nie zuvor in der fast 75-jährigen Geschichte Niedersachsens. Es werden Steuerausfälle abgedeckt, Konjunkturspritzen des Staates gegeben und Investitionen ins Gesundheitssystem finanziert. Ist das alles ohne Alternative? Womöglich – aber es wird nicht ohne Folgen sein.

Die Schuldenpolitik ist nicht risikolos. Hier die Liste der möglichen Nachwirkungen:

Das Argument von den hohen Wachstumsraten: Die Kernbotschaft, die auch Ministerpräsident Stephan Weil in diesen Tagen immer wieder verkündet, lautet so: Der Staat muss jetzt die Wirtschaft ankurbeln, damit erst mehr Konsum, dann mehr Beschäftigung und dann mehr Steuereinnahmen entstehen. Deswegen seien die Konjunkturspritzen, etwa für energetische Gebäudesanierung oder öffentliche Bauten, überaus sinnvoll. Da die Zinspolitik international so ausschaut, dass sich an der Dauer-Niedrigphase wohl wenig ändern wird, kann die in diesem Zusammenhang häufig zu hörende Rechnung sogar aufgehen: Wenn die Wachstumsraten über dem Zinssatz liegen, nimmt der Staat in Folge der neuen Investition viel mehr Geld ein als er für Zins und Tilgung ausgeben muss. Die neuen Schulden könnten also auf absehbare Zeit mit diesen Überschüssen getilgt werden.
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Der Einwand dagegen lautet aber: Immer dann, wenn die Steuerquellen sprudeln, setzen sich in der Politik meist diejenigen Kräfte durch, die nicht an Schuldentilgung interessiert sind, sondern an zusätzlichen staatlichen Ausgaben für Sonderprogramme – beispielsweise für Lehrer und für neue Bildungsangebote in Schulen und Kindergärten in den vergangenen Jahren. In guten Jahren verringert sich der Schuldenstand so nicht wirklich. Die doch eher verhaltenen Erfolge der Landesregierung mit der Tilgung von Altschulden bis zum vergangenen Jahr sind ein Beleg dafür. „Das Beispiel Griechenland vor einigen Jahren zeigt es: Die Regierung wusste, dass es zu Kürzungen keine Alternativen mehr gab. Aber ihr fehlte der Mut, diesen Weg zu gehen“, berichtet der hannoversche Wirtschaftswissenschaftler Prof. Stefan Homburg, einer der vehementesten Kritiker der ausufernden Staatsverschuldung. Das Argument mit der staatlichen Investitionslenkung: Ob in Hannover, in Berlin oder auch in Brüssel – überall wird derzeit nach der Corona-Krise eine Politik verfolgt, die staatliche Wirtschaftshilfen mit inhaltlichen Reformvorstellungen (etwa für mehr Klimaschutz) verknüpft. So entstehen die riesigen Summen (750 Milliarden Euro in der EU, 218 Milliarden Euro im Bundesetat, 8 Milliarden im Landesetat) an neuen Schulden und Umschichtungen. Die Gefahr solcher staatlicher Lenkungen ist, dass damit Strukturen unterstützt werden, die politisch gewollt, aber womöglich nicht immer effektiv und wettbewerbsfähig gestaltet sind. Die staatliche Rückendeckung kann auch unwirtschaftliche Bereiche abschirmen gegen Reformen und damit eine dringend nötige Erneuerung verhindern. Zu den Kuriositäten dieser Wochen gehört, dass ausgerechnet thüringische Ministerpräsident Bodo Ramelow, der ein Politiker der Linkspartei ist, gestern in einem Interview diesen Zusammenhang hervorgehoben und vor einer ungebremsten Verschuldung ohne Überprüfung der Ausgaben gewarnt hat. Ausgerechnet Ramelow, der Repräsentant einer Partei, die am radikalsten für die Politik der Mehrausgaben steht. Die falsche Sorglosigkeit, Staaten seien vor Insolvenz sicher: Viele Befürworter einer ausgeweiteten Schuldenpolitik meinen, Staaten würden immer existieren, sie bräuchten immer Geld für Staatsfunktionen – und sie könnten von ihren Bürgern immer Geld verlangen. Daher könnten sie, anders als überschuldete Firmen, nie pleite gehen. Trotzdem gibt es ein negatives Szenario: Was geschieht, wenn die mit hohen Schulden finanzierten Programme zur Wirtschaftsbelebung und zur Überbrückung der Betriebe in der Krise nicht greifen, wenn die Konjunktur nicht anspringt, wenn reihenweise Unternehmen aufgeben müssen und die (bislang durch Kurzarbeit unterdrückte) Arbeitslosigkeit extrem steigt? Dann müsste der Staat neben der Tilgung für die hohen Kredite noch die laufenden Steuerausfälle verkraften, er müsste dafür immer höhere neue Schulden aufnehmen. Womöglich kommt dann als nächstes noch eine Bankenkrise, da viele von ihnen auf plötzlich faulenden Krediten für die sterbenden Betriebe sitzen. Auch hier wäre wieder der Staat als Retter gefordert. Am Ende könnte die Kreditwürdigkeit des Staates in Zweifel gezogen werden, weil er aus lauter Verzweiflung immer mehr Darlehen aufnehmen muss – und die Steuereinnahmen irgendwann für den Schuldendienst gar nicht mehr genügen. Die höhere Besteuerung der Reichen wäre ein Ausweg – aber das könnte diese aus dem Land treiben. Radikale Kürzungen der Staatsfunktionen (bei Schulen, öffentlicher Sicherheit) könnten die Folge sein. In Europa droht eine solche Entwicklung sicher früher in Italien oder Spanien als in Deutschland, aber die Folgen für die Stabilität des Euro wären insgesamt enorm. Das klingt alles sehr düster, aber es zeigt das Risiko der hohen Schulden. Sie lasten eben über viele, viele Jahre auf der Kostenseite der staatlichen Haushalte. https://www.youtube.com/watch?v=DlgJtBQ83rk&t=1s Die Flucht in die Schattenhaushalte: Schleichend geschieht derzeit eine Abkehr von einem Kernprinzip des Parlamentarismus – dass nämlich die Volksvertretung zu entscheiden hat über alle Einnahmen und vor allem über die Ausgaben des Staates. Zunächst wird nun Geld in mehrere „Sondervermögen“ gepackt, das heißt, die Regierung kann sich daraus in den nächsten Jahren nach eigenem Belieben, bei nur minimaler Beteiligung des Landtages, bedienen – über die Grenzen der Jährlichkeit hinaus, die normalerweise im Haushalt festgelegt sind. Außerdem liebäugeln die Grünen mit der Idee des DGB, einen landeseigenen, vom Land garantierten Sonderfonds zu schaffen, der nach eigenen Vorstellungen Kredite für Infrastruktur-Projekte aufnehmen können soll. Auf der anderen Seite gedeiht bei der FDP der Plan, private Investoren für Großprojekte (etwa Uni-Klinik-Neubauten) heranzuziehen. Beides, ein Landesfonds wie auch ein ÖPP-Plan, würde staatliche Ausgaben aus dem Landesetat ausgliedern und in den „Schattenhaushalt“ packen. Die Gefahr, dass über solche Sonderwege die Staatsverschuldung noch einmal zusätzlich angefeuert wird, ist enorm. (kw)
Dieser Artikel erschien in Ausgabe #132.
Niklas Kleinwächter
AutorNiklas Kleinwächter

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