Nachhaltigkeit will gelernt sein: E-Autos zwingen Firmen zur Weiterbildung
Wenn der Brennstoffzellen-Müllwagen in den frühen Morgenstunden fast geräuschlos durch die Straßen rollt, können die Anwohner ungestört von klimafreundlicher Antriebstechnik träumen. Doch in den Unternehmen, wo Wasserstoff und Hochvolttechnik neu eingeführt werden, sind die Berührungsängste zunächst groß – vor allem dann, wenn gleich beide Technologien aufeinandertreffen. „Am Anfang war das für die Mitarbeiter wie eine Mischung aus gefährlicher Weidezaun und Wasserstoffbombe“, erinnert sich Timo Hagedorn an die Mitarbeiterschulung beim hannoverschen Abfallentsorger Aha.
Der Profi-Schrauber und ehemalige Kraftfahrzeug-Sachverständige hat dem Gutachtenschreiben den Rücken gekehrt, um jetzt als Hochvolt-Trainer bei der „WE Mobility Academy“ in Winsen (Luhe) sein Praxiswissen weiterzugeben. Die neuen wasserstoffbetriebenen Abfallsammelfahrzeuge sind nämlich nicht nur in der Benutzung ganz anders als herkömmliche Dieselmüllwagen. „Es ist wie der Start eines Linienflugzeugs: Die Kraft ist von der ersten Sekunde an da, mit einem kurzen Impuls wird man geradezu von Tonne zu Tonne katapultiert“, erläutert Hagedorn. Auch die Wartungscrew muss sich von Verbrennungsmotor auf Wasserstofftank und Brennstoffzelle umstellen. „Da den Spagat zu finden und zu erklären, welches Bauteil welches Bauteil ersetzt, ist nicht immer leicht. Aber am Ende haben vom Werkstattmeister bis zum Monteur alle gesagt: Wir haben jetzt keine Angst mehr, uns mit dem Fahrzeug zu beschäftigen“, erzählt Hagedorn.
Der Bedarf für Mitarbeiterschulungen in nachhaltigen Zukunftstechnologien wächst. Industriebetriebe, Werkstätten, Rettungskräfte oder kommunale Unternehmen müssen schließlich für die Energie- und Antriebswende fit gemacht werden. „Lebenslanges Lernen war in der Technik noch nie so wichtig wie heute“, weiß Maik Groß von der neugegründeten Sustechnio GmbH aus Hannover, einer Tochterfirma des Bildungswerks der niedersächsischen Wirtschaft (BNW). Der Geschäftsführer des Weiterbildungsanbieters hat seine Karriere selbst als Kraftfahrzeugmeister begonnen und früher noch an 15-Ampere-Sicherungen geschraubt. Bei den heutigen Elektroflitzern geht es dagegen um Stromstärken von 600 Ampere. „Wenn ich da die Sicherung wechsele, würde ich auch lieber zweimal die Spannung messen“, sagt Groß und lacht.
Die Unfallversicherer verstehen bei dem Thema dagegen wenig Spaß. Mit der „DGUV Information 209-093“ hat der Spitzenverband der gewerblichen Berufsgenossenschaften und Unfallkassen eine humorfreie Broschüre veröffentlicht, in der auf 80 Seiten der ordnungsgemäße Umgang mit Hochvolttechnik erklärt wird. Dennoch sind viele Vorgaben zur Organisation sicherer Arbeit in den Betrieben offenbar unbekannt. „Alle Mitarbeiter, die ein elektrisches Betriebsmittel nutzen, müssen vom Unternehmen unterwiesen werden – auch Dienstwagen sind betroffen“, sagt Mobility-Academy-Geschäftsführer Jonathan Wenk. Dass Firmen oder Kommunalverwaltungen ihre Beschäftigten bei der Benutzung des Elektro-Dienstwagens schulen, sei aber nicht die Regel. „Das wird wegignoriert“, wundert sich Wenk und betont: „Die Verantwortung liegt am Ende immer beim Unternehmer, der Vorgesetzte haftet für seine Mitarbeiter.“
Die Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung (DGUV) schreibt vor, dass Beschäftigte für den Umgang mit Hochvolt-Fahrzeugen „sensibilisiert“ werden müssen. „Wesentliche Elemente dabei sind beispielsweise das Bedienen, Reinigen, die Besonderheiten des Fahrverhaltens und das Vorgehen beim Laden“, heißt es in der DGUV-Information: „Bei Unfällen, Beschädigungen und beim Bergen oder Abschleppen können zusätzliche Gefährdungen auftreten. Fahrerinnen und Fahrer sind zu diesen Gefährdungen zu unterweisen.“ Wenn es bei einem Unfall zu Verletzungen komme, könne dies aufgrund von Reha-Kosten richtig teuer werden, mahnt Wenk. „Bei persönlicher Haftung hat das Privatinsolvenzpotenzial“, sagt er und weiß aus der Praxis: „Die OEMs haben das ganz gut auf der Pfanne, die Mittelständler müssen noch lernen.“ Bei der Mobility Academy und Sustechnio wird die „Hochvolt-Unterweisung Stufe S“, die das DGUV-konforme Elektroautofahren ermöglicht, als Online-Schulung für 59 Euro pro Teilnehmer angeboten. Alternativ können Unternehmer die Sensibilisierung aber auch selbst durchführen oder eine „Fachkundig unterwiesene Person“ (FuP) damit beauftragen.
Während die Winser Hochvolt-Experten sich auf Fahrzeugsicherheit spezialisiert haben, versteht sich das BNW-Spinoff Sustechnio (kurz für: „Sustainable Technology in Operation“) als Weiterbildungsunternehmen für alle Nachhaltigkeitstechnologien. „Klimawandel begrenzen geht nur, wenn wir Menschen haben, die neue Technologien auch verbauen können: Wasserstoff, Solar, Wärmepumpen, E-Mobilität – ohne menschliche Fähigkeiten nützen uns die technischen Möglichkeiten wenig“, sagt Geschäftsführer Maik Groß. Er selbst hat sich auf Wasserstoff spezialisiert und arbeitet aktuell auch an einem Wasserstoff-Leitfaden für die Feuerwehren mit. „Wasserstoff ist eines unserer Kernthemen. Es wird viel darüber geredet, die Politik bauscht das auf, aber wenn sie in den Unternehmen nachfragen, kommt da meistens nicht viel“, sagt Groß. Dabei gebe es für Wasserstoff viele praktische Anwendungsbereiche in Verkehr und Industrie, die beim richtigen Umgang mit dem hochexplosiven Gas zudem völlig ungefährlich sind.
„Wasserstoff wird seit über 60 Jahren in der Space-Industrie verwendet, wir sind 1969 damit zum Mond geflogen – das ist nichts Neues“, versichert Wasserstoff-Trainer Patrick Nowakowski. Bei dem studierten Produktionstechniker für Luft- und Raumfahrt dürfen die Teilnehmer der Inhouse-Schulungen sogar selber Wasserstoff herstellen und einsetzen. „Elektrizität ist wie Milch, Wasserstoff ist wie Käse“, sagt Nowakowski. Strom sei oft im Überschuss aber nur mit kurzer Haltbarkeit verfügbar. „Wenn ich ihn nicht sofort verbrauche, wird er schlecht.“ Durch die Umwandlung in Wasserstoff werde die Elektrizität länger haltbar. Um ein Kilogramm Wasserstoff herzustellen, seien etwa neun Kilogramm Wasser sowie 50 bis 55 Kilowattstunden Strom nötig. Verlustfrei gehe das zwar nicht. Mit 33 Kilowattstunden pro Kilo sei Wasserstoff aber ein fast dreimal so guter Energiespeicher wie Benzin mit 12 Kilowattstunden je Kilogramm, rechnet Nowakowski vor. Der Umgang mit dem farb- und geruchlosen Gas, das ungefähr 14 Mal leichter ist als Sauerstoff, müsse jedoch gelernt sein. „Für jede Anwendung von Wasserstoff brauchen wir Fachkräfte“, betont der Experte.
Dieser Artikel erschien am 08.02.2024 in der Ausgabe #024.
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