„Nachhaltigkeit beginnt im Bestand“: Wie der Bausektor die Klimawende schaffen kann
Der Gebäudesektor spielt eine Schlüsselrolle im Klimaschutz. Doch wie lassen sich ökologische Ziele, wirtschaftliche Interessen und soziale Aspekte miteinander vereinen? Robert Marlow, Präsident der Architektenkammer Niedersachsen, gibt zusammen mit Kammer-Vorstandsmitglied und Nachhaltigkeitsexpertin Karen Schäfer im Gespräch mit dem Politikjournal Rundblick Einblicke in zentrale Themen: von der Bedeutung der Sanierungsquote über serielle Sanierungsmethoden bis hin zu den Herausforderungen nachhaltiger Materialien. Sie zeigen auf, welche Schritte erforderlich sind, um den Bau- und Wohnsektor klimaneutral zu gestalten und welche Chancen Niedersachsen dabei hat.
Rundblick: Trotz zahlreicher Initiativen und politischer Zielsetzungen bleibt der Weg zu einer klimaneutralen Bau- und Wohnwirtschaft lang und herausfordernd. Warum ist die Dekarbonisierung des Bausektors so schwierig?
Marlow: Die eigentliche Herausforderung liegt im Bestand. Wir sprechen hier vom „Elefanten im Raum“, wenn es um den Klimaschutz geht. In Deutschland haben wir einen riesigen Gebäudebestand, der energetisch betrachtet unzureichend ist. Dieser Bestand muss so ertüchtigt werden, dass er regenerativ beheizbar wird. Es geht also nicht nur um Neubauten, sondern vor allem um die Sanierung bestehender Gebäude. Dabei stehen wir vor einem gewaltigen Fachkräftedilemma – sowohl bei den planenden als auch bei den ausführenden Berufen.

Rundblick: Der Erfolg der Bestandssanierung wird oft an der Sanierungsquote gemessen. Diese zeigt, welcher Anteil des Gebäudebestands pro Jahr energetisch saniert wird. Ziel sollte eine Quote von 4 Prozent sein, tatsächlich liegt sie jedoch nur bei 0,7 Prozent. Was muss geschehen, um diesen Rückstand aufzuholen?
Schäfer: Wir müssen uns darauf konzentrieren, die bestehenden Regularien und Verfahren zu vereinfachen. Die Niedersächsische Bauordnung wurde bereits novelliert, was den Weg für Erleichterungen in der Bestandssanierung ebnet. Beispielsweise ist es jetzt möglich, Sanierungen, Umnutzungen und/oder Aufstockungen durchzuführen, ohne den gesamten Bestand an aktuelle Neubau-Standards anpassen zu müssen. Das ist ein wichtiger Schritt, um die Kosten und den Aufwand bei Sanierungen zu senken, aber auch um mehr Bestandsgebäude zu erhalten.
Marlow: Frau Schäfer hat recht, aber wir dürfen uns nicht allein auf Regularien verlassen. Die Umsetzungsfrage ist zentral. Es fehlen sowohl ausreichend Fachkräfte als auch industrielle Kapazitäten, um Sanierungen in großem Stil durchzuführen, auch serielle Anreize wie verkürzte Abschreibungsfristen oder steuerliche Vorteile könnten für mehr Sanierungen im Bestand sorgen.
Rundblick: Herr Marlow, Sie sprachen von seriellen Sanierungen. Was ist darunter zu verstehen, und wie weit ist Niedersachsen hier?
Marlow: Serielle Sanierung bedeutet, dass Bauteile in der Halle vorgefertigt und vor Ort wie ein Baukastensystem zusammengefügt werden. Das spart Zeit und Ressourcen, ist aber nicht für alle Gebäudetypen geeignet. Niedersachsen ist hier noch am Anfang, aber es gibt Pilotprojekte, die zeigen, dass wir auf dem richtigen Weg sind. Trotzdem: Serielle Verfahren sind kein Allheilmittel. Gerade im Bestand treffen wir auf so viele individuelle Gegebenheiten, dass eine serielle Lösung nicht immer passt.
Rundblick: Frau Schäfer, wie können wir Nachhaltigkeit und Wirtschaftlichkeit im Neubau besser verbinden?

Schäfer: Entscheidend ist, dass wir Gebäude über ihren gesamten Lebenszyklus betrachten. Aktuell liegt der Fokus oft auf der Betriebsenergie, also darauf, wie energieeffizient ein Gebäude im Betrieb ist. Aber der Energie- und Rohstoffverbrauch bei der Herstellung und dem Abriss von Gebäuden wird oft ausgeblendet. Hier müssen wir ansetzen, indem wir zunächst die Potenziale des Bestandes nutzen und die „graue Energie“ wahren, aber auch Materialien verwenden, die wiederverwendet, wiederverwendbar oder nachwachsend sind, wie zum Beispiel Holz. Und wir müssen den CO2-Fußabdruck bei der Herstellung von Baustoffen wie Beton und Stahl weiter reduzieren.
Marlow: Genau, und wir müssen auch darüber nachdenken, wie wir diese CO2-Emissionen bepreisen. Die EU geht hier mit neuen Vorgaben voran und fordert ab 2028 Lebenszyklus-Nachweise ein. Das wird uns hoffentlich dazu bewegen, Baustoffe nachhaltiger zu denken und Gebäude so zu planen, dass sie am Ende ihres Lebenszyklus klimaneutral und wiederverwendbar sind.
Rundblick: Ein anderer Punkt, der oft diskutiert wird, ist die soziale Dimension der Nachhaltigkeit. Wie können wir sicherstellen, dass nachhaltiger Wohnraum bezahlbar bleibt?
Schäfer: Das ist eine Herausforderung, die vor allem durch kluge politische Rahmenbedingungen gelöst werden kann. Wir brauchen einen zweiten Förderweg, der auch Haushalte anspricht, die über den bisherigen Einkommensgrenzen liegen. Zudem müssen wir Bestandsgebäude anpassen, um sie an heutige Wohnbedürfnisse anzugleichen. Viele Einfamilienhäuser könnten durch geringfügige An- oder Aufbauten zu Mehrgenerationenwohnungen oder Gemeinschaftswohnungen umgestaltet werden.
„Wir haben heute eine durchschnittliche Wohnfläche von 48 Quadratmetern pro Person in Deutschland, und das ist einfach zu viel.“
Marlow: Richtig, und dazu passt auch der Ansatz, Flächen effizienter zu nutzen. Wir haben heute eine durchschnittliche Wohnfläche von 48 Quadratmetern pro Person in Deutschland, und das ist einfach zu viel. Mit gezielten Nachverdichtungen, Aufstockungen und Umnutzungen und der Förderung flächeneffizienter Wohneinheiten könnten wir erheblichen Wohnraum schaffen, ohne neue Flächen zu versiegeln.

Rundblick: Stichwort Flächen: Was bedeutet das für die Resilienz unserer Städte angesichts des Klimawandels?
Schäfer: Städte müssen grüner werden. Begrünte Fassaden und Dachflächen senken die Umgebungstemperatur und verbessern die Luftqualität. Gleichzeitig müssen wir die Versiegelung von Flächen reduzieren, um Starkregenereignisse besser bewältigen zu können. Hier sehe ich großen Handlungsbedarf, denn viele Kommunen haben zwar Pilotprojekte, aber der große Wurf fehlt noch.
Marlow: Das Thema Klimaresilienz wird in Zukunft genauso wichtig wie CO2-Reduktion. Wir müssen parallel daran arbeiten, unsere Städte widerstandsfähig zu machen und gleichzeitig den Klimaschutz voranzutreiben.
Rundblick: Lassen Sie uns noch über das Thema Umbaukultur sprechen. Wie wichtig ist es, bei Sanierungen den architektonischen Charakter eines Gebäudes zu bewahren?
Schäfer: Das ist ein spannendes Feld. Einerseits müssen wir energetisch optimieren, andererseits wollen wir die architektonische Identität eines Gebäudes erhalten. In vielen Fällen ist es möglich, durch gezielte Eingriffe eine Balance zu finden. Es geht darum, die Substanz mit neuen Elementen zu ergänzen, anstatt alles zu ersetzen.
Marlow: Wir brauchen eine stärkere Wertschätzung für den Bestand, um aus der „grauen Energie“, die bereits in einem Gebäude steckt, eine „goldene Energie“ zu machen. Abriss und Neubau sind oft die schlechteren Lösungen – sowohl aus ökologischer als auch aus baukultureller Sicht. Hier muss und wird sich das Bewusstsein noch stärker verändern.
Rundblick: Wo sehen Sie Niedersachsen in zehn Jahren, wenn es um nachhaltiges Bauen und Sanieren geht?
Marlow: Niedersachsen hat mit der Novellierung der Bauordnung einen wichtigen Grundstein gelegt. Wenn wir weiter mutig darauf aufbauen, können wir bundesweit Vorreiter sein. Die Balance zwischen nachhaltigem Bauen, Wirtschaftlichkeit und sozialer Verträglichkeit wird dabei entscheidend sein.
Schäfer: Ich hoffe, dass wir es schaffen, nicht nur Gebäude nachhaltiger zu machen, sondern auch das Bewusstsein für die Bedeutung des Bestands zu stärken, ganz in dem Sinn: Hinterfragt jeden Abriss kritisch! Unser Ziel muss es sein, Baukultur und Klimaschutz besser miteinander zu vereinen und zusammenzudenken.
Dieser Artikel erschien am 07.03.2025 in der Ausgabe #045.
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