Müssen die Häuser am Deich im Alten Land abgerissen werden?
Seit Jahrhunderten, sagt Rainer Podbielski, gibt es im Alten Land im Landkreis Stade eine ganz eigentümliche, über Generationen überlieferte Siedlungsstruktur. Das mache die Gegend auch so attraktiv für Besucher von außerhalb. Die Dörfer liegen nicht etwa abseits der Flüsse, hier vor allem der Este und der Lühe, die in die Elbe münden, sondern sie schlängeln sich entlang von ihnen. „Die Ursprünge reichen bis ins 13. Jahrhundert“, meint Podbielski, er spricht von „holländischen Wurzeln“. Da sei es doch verständlich, dass die Menschen es dabei belassen wollten. Seit einiger Zeit aber drohe von Hannover aus, vom niedersächsischen Umweltministerium, Ungemach. Es gehe um die im Deichgesetz befindliche 50-Meter-Zone zur Deichgrenze, die laut Vorschrift zwingend frei von Bebauung bleiben muss. Jahrzehntelang wurde diese Maßgabe nicht weiter beachtet, nun fürchten die Anwohner, dass Minister Stefan Wenzel (Grüne) ernst machen und sie durchpauken könnte. Die Folge: Hunderte Gebäude würden ihren Bestandsschutz verlieren, sie könnten nicht mehr umgebaut oder erweitert werden – im schlimmsten Fall müsste man sie sogar abreißen.
Podbielski, der nicht verwandt ist mit dem preußischen General, nach dem eine Straße in Hannover benannt ist, führt als Rentner eine überparteiliche Bürgerinitiative an. Sie vertritt die Hauseigentümer und Dorfbewohner im Alten Land. Noch vor einem guten halben Jahr hatte die Interessengemeinschaft Hoffnung, dass ihre Sorgen und Bedenken in der Landeshauptstadt Gehör finden würden. Mittlerweile ist Podbielski schwer enttäuscht: „Wir werden vom Umweltministerium hingehalten und vertröstet. Man wollte uns einladen, mit uns reden und uns beteiligen. Geschehen ist seit mehr als sechs Monaten gar nichts.“ Das Ziel der Initiative ist klar: Wenn schon keine Mehrheit für eine Änderung des Deichgesetzes im Landtag durchsetzbar ist, dann solle wenigstens eine Ausführungsbestimmung so gefasst werden, dass alle Hausbesitzer in der 50-Meter-Zone zum Deich eine sichere Rechtsgrundlage haben, dass also die Behörden angewiesen werden, bei bestehender Deichsicherheit die Bebauung und bauliche Veränderungen zuzulassen – wenigstens für die bestehenden Gebäude.
Von denen gibt es viele. Die Rede ist von acht oder neun Dörfern, die sich entlang der Este und Lühe erstrecken. Estebrügge, Mittelkirchen und Steinkirchen zählen dazu. 1800 bis 1900 Gebäude stehen dort, die meisten in Deichnähe oder jedenfalls innerhalb des 50-Meter-Abstandes. Geschätzt werden 7500 Menschen, die als Bewohner betroffen sind. Jahrzehntelang, sagt Podbielski, hat sich niemand weiter um die Paragraphen im Deichgesetz geschert, die Siedlungsentwicklung vollzog sich wie seit Jahrhunderten, Häuser wurden gebaut und umgebaut. Dass gesetzlich vorgeschrieben ist, den Deich und die dahinterliegende 50-Meter-Zone von Bebauung frei zu halten, habe niemanden interessiert. In Paragraph 16 steht, dass Ausnahmen von der Deichbehörde zwar zugelassen werden können, allerdings nur, „wenn das Verbot zu einer offenbar nicht beabsichtigten Härte“ führen würde. Dann, berichtet Podbielski, geschah vor etwa drei Jahren ein Unglück – das Haus einer Familie brannte ab, die Eigentümer wollten es wieder aufbauen. Doch der damalige, inzwischen abgelöste Sprecher des Deichverbandes, der Gemeinschaft der Grundeigentümer, legte sein Veto ein – und zitierte das Deichgesetz. In den Dörfern wurde heftig über diese Einwände gestritten, und Podbielski sagt, die meisten hätten es für die Einzelmeinung eines Querulanten gehalten.
Nach heutigem Recht kann die Aufsichtsbehörde jederzeit kommen und von jedem Hauseigentümer innerhalb der Zone verlangen, sein Gebäude sofort abzureißen.
Dann aber habe sich das Umweltministerium in Hannover eingeschaltet, und nach zwei Besuchen von Umwelt-Staatssekretärin Almut Kottwitz im Alten Land glaubt der Vorsitzende der Interessengemeinschaft nun, dass das Ministerium die „harte Linie“ vertrete: „Als Frau Kottwitz erschien und erklärte, das Gesetz lasse keine Bebauung am Deich zu, bekam die anfängliche Einzelmeinung eines Vertreters der Deichverbandes einen offiziellen Anstrich, sie wurde sogar soetwas wie ein Regierungsprogramm“, sagt Podbielski. Dies habe einen wahren Aufstand der Bewohner ausgelöst. Lokale Parteien von SPD und Grünen bis CDU und FDP, dörfliche Vereine und Unternehmen, Banken und Sparkassen begehrten auf, der Kreistag in Stade verabschiedete eine Resolution. Die Empörung war groß: „Nach heutigem Recht kann die Aufsichtsbehörde jederzeit kommen und von jedem Hauseigentümer innerhalb der Zone verlangen, sein Gebäude sofort abzureißen. Das darf doch nicht sein.“ Das Umweltministerium sieht das nicht so: Bisher sei es immer gelungen, im Alten Land zu „sachgerechten Entscheidungen in besonders gelagerten Einzelfällen zu kommen“, teilt eine Sprecherin mit.
Im Umweltausschuss des Landtags fanden die Leute aus dem Alten Land Gehör, und zwar parteiübergreifend, wie Podbielski berichtet. Zwar zeichne sich keine Mehrheit für eine Änderung des Deichgesetzes ab, auch nicht für eine Rechtsverordnung, die die entsprechenden Paragraphen entkräftet. Aber ein „ermessensbindender Erlass“ sei denkbar – also eine Vorgabe an die Baubehörden, die Ausnahmegenehmigung immer dann zu erteilen, wenn die Deichsicherheit gewährleistet ist. Dies würde aus der eng begrenzten Bestimmung im Gesetz den Regelfall machen, wenn es denn so käme. Doch Podbielski sagt: „Vor Weihnachten hatten wir Signale, dass das Umweltministerium mit uns über die genauen Formulierungen reden würde. Geschehen ist seither nichts.“ Das Umweltministerium erklärt dazu, der „ermessensbindende Erlass“ zur Anwendung des Deichgesetzes sei „weiterhin in Arbeit“. Dieser solle „zeitnah entworfen sein und dann den örtlich Betroffenen zur Stellungnahme vorgelegt werden“. (kw)