14. Okt. 2019 · Finanzen

Mit „Zuckerbrot und Peitsche“: Wie die Stadt Salzgitter ihre Krise meistern will

Phantasie ist in den kommenden Monaten und Jahren gefragt – und Salzgitters Oberbürgermeister Frank Klingebiel (CDU) hat sich auch schon einen Plan zurechtgelegt. Es geht um die 8000 Werkswohnungen in der Industriestadt Salzgitter, die meisten stammen aus der Zeit, als das Stahlwerk in den vierziger Jahren entstand und die Arbeiter in der Nähe untergebracht werden mussten. Mehrere geschlossene, bauhistorisch wertvolle Arbeitersiedlungen gibt es heute in der Stadt, aber viele sind inzwischen weit, weit vom heute üblichen Standard entfernt. Investiert wurde nämlich in den vergangenen Jahrzehnten nicht mehr. Nicht nur der Putz bröckelt vielerorts, die Zuschnitte sind eng, eine regelmäßige Bestandspflege fällt aus, von Modernisierung ganz zu schweigen. 3000 Wohnungen stehen leer, in vielen anderen leben Flüchtlinge, die keine Arbeit haben, oder Menschen aus Osteuropa, von denen viele Empfänger von Sozialleistungen sind.

Zuzugsstopp reichte nicht aus

Klingebiel und die Politiker der Stadt sehen hier sozialen Sprengstoff. Seit zwei Jahren schon gibt es einen Zuzugsstopp für anerkannte Flüchtlinge. Da viele Syrer vor allem dort hinziehen wollen, wo schon Syrer leben, und weil viele der alten Werkswohnungen noch unbewohnt sind, bestand die Gefahr einer Slum-Bildung. Aber auch nach der Zuzug-Sperre bleibt das Problem, denn immer noch locken günstige Wohnungen Menschen an, die hier leben wollen und kaum Miete zahlen können.

Es ist eine ungewöhnliche Maßnahme, wenn das Land einer einzigen Stadt in diesem Umfang hilft.


Bei Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) und CDU-Fraktionschef Dirk Toepffer fanden Klingebiel und der SPD-Landtagsabgeordnete Stefan Klein Gehör – deshalb fließt nun eine besondere Salzgitter-Strukturhilfe aus dem Landesetat in Höhe von 50 Millionen Euro. 8 Millionen Euro aus dem Integrationsfonds für problembehaftete Kommunen kommen zusätzlich hinzu. „Es ist eine ungewöhnliche Maßnahme, wenn das Land einer einzigen Stadt in diesem Umfang hilft“, sagte der Ministerpräsident gestern bei der Vorstellung des Konzeptes, und er fügte hinzu: „Die Situation ist aber auch ungewöhnlich.“ [gallery link="file" ids="44226,44225,44224,44223,44222,44221,44220,44219"] Salzgitter erlebe eine Problemballung: Erst das Überangebot an günstigen, teilweise vergammelten Wohnungen, dann ein hoher Zuzug von Migranten, 6000 waren es in der Hochphase. Dann der Strukturwandel der Wirtschaft – das Stahlwerk muss mittelfristig auf wasserstoffbasierte Energiezufuhr umstellen, VW steuert auf die E-Mobilität zu. Schließlich dann noch eine Finanzkraft Salzgitters, die – gerade wegen enormer Schwankungen der Gewerbesteuer – unterdurchschnittlich bleibt.

19 Millionen für die Sanierung der Werkssiedlung

Was geschieht nun mit dem Geld des Landes? Viele Migranten haben Kinder, die Einrichtungen reichen nicht. So fließen 15 Millionen Euro in zwei neue Grundschulen, neun Millionen Euro in neue Kindergartenplätze. Die Stadt selbst steuert acht Millionen durch den Verkauf ihres Bestandes an Aktien hinzu. Sieben Millionen Euro sollen für Wirtschaftsprojekte fließen, darauf hat der zuständige Landesbeauftragte Matthias Wunderling-Weilbier bestanden. Womöglich kommt hier der Aufbau eines Labors zur Wasserstoff-Energieerzeugung ins Spiel. 19 Millionen Euro sind daneben für die Sanierung des Bestandes an Werkssiedlungen vorgesehen. Das soll so laufen: Die Stadt will möglichst 800 Wohnungen für 16 Millionen Euro erwerben. Bisher sind die Eigentümer Hedge-Fonds, der Wohnungsbestand wird alle paar Jahre an neue Käufer weitergegeben – und zwar im Paket mit lukrativen Immobilien. Sollten die Eigentümer viel zu hohe Preisvorstellungen haben, will Klingebiel das Vorkaufsrecht der Stadt intensiv nutzen: Die Kommune übernimmt, wenn ein Eigentümer an den nächsten veräußern will. Der Oberbürgermeister spricht außerdem von einer Strategie, die man mit „Zuckerbrot und Peitsche“ beschreiben kann: Das neue Wohnraumschutzgesetz des Landes soll es den Stadtverwaltungen gestatten, Wohnungen zu besichtigen und – wenn unhaltbare Zustände dort herrschen – auch zu sperren. Dies könnte im Fall der Fälle ein Druckmittel sein, Eigentümer von verwahrlosten Immobilien zum Verkauf zu bewegen. Und wenn die Stadt Salzgitter dann Zug um Zug größere Teile der alten Werkswohnungen erworben hat, will Klingebiel dort Schritt für Schritt sanieren: Wohnungen könnten größer werden, durchaus Luxus enthalten – und eine „Durchmischung“ wäre erreicht, weil neben den vielen armen und sozial schwachen Eigentümern auch besser betuchte einziehen würden und niemand mehr von Slum spricht. Dazu gehöre aber „notfalls auch der Abriss einzelner Häuserblöcke, schon um das Überangebot an Wohnungen zu beseitigen“, erklären Ministerpräsident und Oberbürgermeister übereinstimmend.
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Der Plan stößt im Rat der Stadt auf breiten Zuspruch, und doch bleibt bei vielen Beobachtern ein mulmiges Gefühl. Wie kam es überhaupt zu dieser Notlage Salzgitters? Ist es das Versagen der Stadtpolitiker? Der frühere Stahlmanager Hans-Joachim Selenz, der ein Zeitzeuge für viele Entwicklungen war, sieht gravierende Fehler in der Vergangenheit. Bis 1989 war der Bund Eigentümer des einst von den Nazis gegründeten Stahlwerks, dann wurde es an die Preussag verkauft, in der damals die West-LB und damit dem Land Nordrhein-Westfalen das Sagen hatten. Selenz hält den Vertrag für eine Katastrophe, denn für nur 2,5 Milliarden D-Mark habe der gesamte Konzern seinen Besitzer gewechselt, die mit 10,2 Milliarden D-Mark bewerteten Immobilien seien unberücksichtigt geblieben. Als dann Mitte der neunziger Jahre die Preussag in Schwierigkeiten geriet und das Stahlwerk aus dem Konzern herausgelöst werden sollte, hatte die Idee einer Herauslösung der Wohnungen und Übertragung an eine Stiftung keine Chance mehr – die Preussag hätte das wohl nicht verkraftet.

Es war ein Trauerspiel: Am Ende wurden die Wohnungen von der Preussag verkauft, damit diese ihre wirtschaftlichen Abenteuer bezahlen konnte.


Selenz spitzt es zu: „Es war ein Trauerspiel: Am Ende wurden die Wohnungen von der Preussag verkauft, damit diese ihre wirtschaftlichen Abenteuer bezahlen konnte.“ Und als Gerhard Schröder dann 1998 das Stahlwerk für das Land Niedersachsen erwarb und es zurückholte in staatliche Obhut, war von den Wohnungen keine Rede mehr. Wenn die Version von Selenz stimmt, dann haben die Probleme der Stadt ihre Ursache in einem riesigen Wirtschaftskrimi rund um das Stahlwerk – mit Beteiligten in der großen Politik, die über das kommunale Geschehen weit hinausgehen. (kw)
Dieser Artikel erschien in Ausgabe #180.
Niklas Kleinwächter
AutorNiklas Kleinwächter

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