Mai-Kundgebungen mal anders: „Mit Anstand Abstand halten“
Die ganz alten unter den Aktiven werden sich womöglich noch an den 1. Mai 1946 erinnern können. Damals hatten in Deutschland die Alliierten das Sagen, die Gründung der Bundesrepublik und der DDR lag noch drei Jahre entfernt. Der DGB war auch noch nicht gegründet, obwohl schon 1945 die ersten Gewerkschaftsbewegungen neu entstanden, zunächst auf regionaler Ebene. Die Alliierten ließen zwar den 1. Mai 1946 als Gedenktag der Arbeiterbewegung zu, doch Kundgebungen durften damals, knapp ein Jahr nach Kriegsende, nur eingeschränkt stattfinden.
Lesen Sie auch:
Interview mit Bischof Meister: „Das Gewohnte bietet keine Sicherheit mehr“
So ist es heute, unter den Vorzeichen des Corona-Virus, auch wieder: Niemand stellt den 1. Mai, der seit Jahrzehnten gesetzlicher Feiertag in der Bundesrepublik ist, als solchen in Frage – aber aus Gründen des Infektionsschutzes wären Kundgebungen nur mit starken Auflagen möglich. Das hat nun, anders als in der unmittelbaren Nachkriegszeit, keine politischen Ursachen. Vielmehr soll verhindert werden, dass sich größere Menschengruppen bilden und diese dann – zwangsläufig – nah beieinander stehen. Ein solches Verhalten könnte nämlich die Übertragung des Virus begünstigen und den Erfolg der umfangreichen Kontaktbeschränkungen, die seit Mitte Mai gelten, erheblich gefährden.
Lockerungen bei Demo-Beschränkungen
Nun befinden sich die die Gewerkschaften in einem Dilemma: Seit Mitte März hatte zunächst in den verschiedenen Verordnungen der Länder, in Niedersachsen des Sozialministeriums, ein striktes Demonstrationsverbot gegolten. Mehrere Gerichte beschäftigten sich damit, am 15. April hatte das Bundesverfassungsgericht ein Versammlungsverbot, das vorher vom Verwaltungsgericht Gießen und vom Hessischen Verwaltungsgerichtshof bestätigt worden war, gekippt. Dabei war die Teilnehmerzahl in dem Gießener Fall auf 30 beschränkt worden, ein Mindestabstand zwischen den Teilnehmern sollte eingehalten werden.
https://soundcloud.com/user-385595761/so-lief-die-landtagsdebatte-zur-coronakrise
Die höchsten Richter in Karlsruhe entschieden, dass unter solchen Voraussetzungen Demonstrationen erlaubt sein müssten. Am 17. April legte die Landesregierung fest, das bisherige Demonstrationsverbot zu lockern: Versammlungen unter freiem Himmel sind zulässig, wenn „der Schutz vor Infektionen durch geeignete Maßnahmen sichergestellt wird“. Die zuständige Behörde könne Beschränkungen oder Auflagen verhängen. Da diese Nachricht nun gut zwei Wochen vor dem 1. Mai kam, hätte es einen Hoffnungsschimmer für die Gewerkschafter bieten können.
Die übiche Parole wäre widersinnig gewesen
Doch im DGB-Landesbezirk Niedersachsen wird, wie der DGB-Bundesvorstand schon am 20. März festgelegt hat, auf solche Kundgebungen in diesem Jahr verzichten. „Schließt Euch fest zusammen“, die übliche Parole, wäre widersinnig gewesen – da der Seuchenschutz das Gegenteil erfordert. Versammlungen von bis zu 30 Teilnehmern, die noch weit auseinander stehen müssten, wären vermutlich auch nicht so eindrucksvoll. Deshalb findet die Hauptaktivität dieses Jahr im Netz statt – nach dem offiziellen DGB-Motto in diesem Jahr: „Solidarisch ist man nicht alleine“.
https://www.facebook.com/DGBniedersachsen/videos/551318272181121/
„Wir demonstrieren in diesem Jahr virtuell zum 1. Mai“, erklärt Tina Kolbeck, Sprecherin des DGB Niedersachsen, auf Rundblick-Anfrage. Dies könne womöglich weit mehr Resonanz erzeugen und Begeisterung wecken als Demonstrationen auf der Straße, die in diesem Zeiten eben nur mit erheblichen Beschränkungen denkbar seien. Bundesweit hat der DGB alle Interessierten schon vor Wochen aufgerufen, das Lied „You’ll never walk alone“ vor ihrem Computer zu singen, das Ergebnis aufzunehmen und dem DGB bis 26. April zuzusenden.
Daneben gibt es Videobotschaften, sowohl bundesweit als auch regional. In Niedersachsen haben bisher 80 Bürger, die vorher vom DGB gebeten wurden, dazu eine Botschaft auf Kurz-Videos aufgenommen. Im Netz verkündet etwa der SPD-Landtagsabgeordnete Markus Brinkmann aus Hildesheim: Solidarisch heiße für ihn, die Mitbestimmungsrechte von Betriebs- und Personalräten auszuweiten. Für den 1. Mai kündigt der DGB außerdem an, es würden Musiker und Comedians im Netz auftreten, es werde Talk-Runden und Interviews geben – und aus ganz Deutschland seien Solidaritätsbotschaften zu hören. Der Start ist dann am Freitag, 1. Mai, um 11 Uhr.