Am Wochenende vollzogen die Sozialdemokraten einen weiteren Akt im ausgedehnten Vorgang des Regierungswechsels: Wenige Tage nach seiner Wahl zum Ministerpräsidenten ist Olaf Lies am vergangenen Sonnabend in Wolfenbüttel zum neuen Landesvorsitzenden der Niedersachsen-SPD gewählt worden. Die knapp 200 Delegierten bescherten ihm ein Traumergebnis von 96,4 Prozent. Der Parteitag wurde begleitet von vielen guten Wünschen, einigen selbstkritischen Bemerkungen und manchen direkt geäußerten Erwartungen. Unangenehm wurde es indes für SPD-Chef Lars Klingbeil.

Der Erste, der in der Wolfenbütteler Lindenhalle sein Grußwort ausweitete, war Mehrdad Payandeh, der Landesvorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes. Anstelle einer freundlichen knappen Botschaft an die Delegierten des SPD-Landesparteitages formulierte Payandeh fast schon ein Co-Referat – und machte dabei aus seiner ausgeprägten Nähe zur Partei keinen Hehl. „Ich fühle mich hier zuhause, das ist hier meine politische Heimat.“ Dann folgten einige klare Ansagen, die auch als Arbeitsauftrag an den neuen Ministerpräsidenten verstanden werden können. Olaf Lies, sagte Payandeh, habe „mit Entschlossenheit das Tariftreue- und Vergabegesetz im Kabinett durchgesetzt“, lobte der DGB-Vorsitzende – ohne hinzuzufügen, dass die entscheidende Hürde im Landtag noch nicht genommen ist. Lies habe „einen starken gewerkschaftlichen Kompass“ und sei ein „strategischer Partner der Arbeiterbewegung“, erklärte Payandeh und wandte sich direkt an den Regierungschef: „Lieber Olaf, Du bist der Ministerpräsident, den die Menschen in dieser Zeit brauchen.“
Solche Worte hörte Lies an diesem Tag öfter, denn der Parteitag wurde teilweise zu einem Fest für den neuen Regierungschef. Der Präsident der Landwirtschaftskammer Gerhard Schwetje trug vor, wie sehr Lies beim „Niedersächsischen Weg“ die Verständigung mit den Bauern gesucht habe, der Braunschweiger SPD-Bezirkschef Thorsten Kornblum erinnerte an den Lies-Ansatz, breite Mehrheiten für wichtige Projekte zu suchen – und die Wolfenbütteler Landrätin Christiana Steinbrügge dankte Lies für sein Ziel, die Interessen der Kommunen stärker zu berücksichtigen. Die wohl stärkste Unterstützung leistete an diesem Tag der Amtsvorgänger. Stephan Weil, bewusst in Jeans und Turnschuhen erschienen und damit auch äußerlich betont zurückgenommen, erinnerte an die breite Mehrheit, die Lies bei der geheimen Wahl im Landtag als neuer Regierungschef bekommen hatte. Das symbolisiere Aufbruch, sagte Weil, und die gegenwärtige Stärke der Niedersachsen-SPD liege an der großen internen Geschlossenheit – und diese müsse auch jetzt fortgesetzt werden. Die Stärke der Niedersachsen-SPD dürfe nicht in Selbstzufriedenheit enden, betonte Weil – „wir sind nicht tolle Hechtinnen und Hechte“ -, sie sei vielmehr ein Auftrag zu einem verantwortungsbewussten Handeln.

Anschließend trug Lies seine Bewerbungsrede vor – schwungvoll und zugewandt wie immer, inhaltlich jedoch ohne Neuigkeiten. Er bekannte sich dazu, als Anhänger einer stärkeren Infrastruktur auch für neue Autobahnen einzutreten – auch für die A39 zwischen Lüneburg und Wolfsburg. Lies appellierte an die Sozialdemokraten, neue Kandidaten für die Kommunalwahlen zu finden, auch für die Positionen von Bürgermeistern, Oberbürgermeistern und Landräten. Das betrifft beispielsweise die Stadt Göttingen, zumal gerade die dortige Oberbürgermeisterin Petra Broistedt ihren Rückzug im nächsten Jahr mitgeteilt hat. Lies betonte, dass er ein entscheidungsstarker Regierungschef sein werde – aber nicht allein entscheiden, sondern die wichtigen Akteure einbinden wolle. „Das soll nicht nach der Trumpschen Methode laufen, obwohl dies ja auch in der CDU Anhänger hat“, fügte er hinzu. Kurz danach folgte die Neuwahl des Vorsitzenden. 185 Stimmen waren für ihn, sechs stimmten mit Nein, einer enthielt sich der Stimme. Das entspricht einer Zustimmung von 96,4 Prozent. Generalsekretärin Dörte Liebetruth erhielt nur 137 Ja-Stimmen. Neu in der Riege der Vize-Vorsitzenden ist Hannovers SPD-Stadtchef Adis Ahmetovic, er bekam 148 Stimmen. Vier weitere Stellvertreter kommen hinzu: Kathrin Wahlmann aus Osnabrück (166 Stimmen), Dunja Kreiser aus Wolfenbüttel und Svenja Stadler aus Harburg (je 152 Stimmen), sowie Philipp Raulfs aus Gifhorn (126 Stimmen).
Allerdings wurde die gute Laune des Übergangs vom Vorsitzenden Stephan Weil auf den Vorsitzenden Olaf Lies überschattet von heftigem internen Streit. In dessen Zentrum stand Lars Klingbeil, der als Vizekanzler, Bundesfinanzminister und SPD-Chef zu Beginn eine längere, durchaus selbstkritische Rede hielt. Im Bundestagswahlkampf habe die SPD zu spät auf Ratschläge gehört, die Industriepolitik stärker zu gewichten. "Die SPD lässt sich zu sehr von denen beeindrucken, die laut sind." Er wisse, dass viele in der SPD zweifelten, ob ein Bundesminister zugleich ein guter Parteichef sein könne – aber der Landesverband Niedersachsen zeige, dass man Partei- und Regierungsarbeit gut verknüpfen könne. Das schlechte Ergebnis der Bundestagswahl habe auch ihn sehr betroffen gemacht, betonte Klingbeil – und er befürworte ausdrücklich eine Aufarbeitung, fordere sie sogar. Der Beifall für den SPD-Chef war daraufhin ordentlich, aber nicht überschwänglich. Schon zu Beginn, als Klingbeil von SPD-Bezirkschef Kornblum begrüßt wurde, war die Reaktion beim Parteitag eher mager – weshalb Kornblum noch einmal nachlegte und die Bedeutung des Vizekanzlers mehrfach unterstrich. Später war es Weil, der Klingbeil lobte, weil er nach der Bundestagswahl „den Laden nach vorn gebracht habe“. Olaf Lies schloss sich dem Lob an und kritisierte, dass er sich in den vergangenen Wochen gewundert habe, wie negativ teilweise über Klingbeil gesprochen werde.

Das alles wirkte dann nur eingeschränkt, denn in der allgemeinen Aussprache, kurz vor den Vorstandswahlen, starteten vier Jusos eine heftige Attacke auf den Vizekanzler. Lisa Jarmuth rügte, im SPD-Verhandlungsteam hätten nur ältere Männer gesessen, das Resultat zur Migrationspolitik sei enttäuschend. Ein junger Mann meinte, viele Menschen hätten das Vertrauen in die SPD verloren, „sie verachten uns teilweise sogar“. Weder das Willy-Brandt-Haus noch der Rat von Wissenschaftlern in den Universitäten könnten die Defizite ausgleichen. Klingbeil trage die Verantwortung, und man solle sich fragen, „warum er 2029 als Kanzlerkandidat einer 15-Prozent-Partei antreten will“. Die Gifhorner Juso-Vertreterin Emma Lou Menges meinte, nicht das 16,4-Prozent-Resultat der SPD am Abend der Bundestagswahl sei ein „Schlag in die Magengrube“ gewesen, die größere Enttäuschung sei von Klingbeils Erklärung zur Übernahme des Fraktionsvorsitzes ausgegangen. Das sei ein „eiskaltes Machtmanöver“ gewesen. Als daraufhin Kritik am Auftreten des Parteinachwuchses laut wurde, sagte der hannoversche Juso-Sprecher Marco Albers: „Wo sollen wir darüber diskutieren, wenn nicht hier auf dem Parteitag?“ Der Angriff der Jusos erntete prompt eine Gegenreaktion, in der sich mehrere hochrangige SPD-Politiker aufgerufen sahen, für Klingbeil in die Bresche zu springen – Adis Ahmetovic, Steffen Krach und Arno Brandt. Klingbeil selbst ließ es sich auch nicht nehmen, noch einmal nach vorn zu gehen und sich selbst zu verteidigen. Die Diskussion sei fair verlaufen, er könne das aushalten, sagte er einleitend – um dann aber zu sagen: „Ich erlebe Tendenzen, dass Diskussionen nur noch erhitzt und persönlich geführt werden. Das bringt uns aber nicht weiter.“ Hier mussten sich die Jusos wohl angesprochen fühlen.
Am Abend des Tages war klar: Lies sitzt in der Niedersachsen-SPD jetzt mindestens so stark im Sattel, wie es vor ihm Weil getan hatte. Aber was Klingbeil und seine Zukunft in der SPD angeht, sind wohl noch manche Fragen offen. Entscheidend dürfte der SPD-Bundesparteitag sein, bei dem der neue Vorstand gewählt wird – Ende Juni in Berlin. Der niedersächsische SPD-Landesvorstand hat Klingbeil einstimmig nominiert für die Wiederwahl als Parteichef.