Auf den ersten Blick macht Niedersachsen einen robusten wirtschaftlichen Eindruck: Die Zahl der Erwerbstätigen befindet sich auf Rekordniveau, die Arbeitslosigkeit ist niedrig und die Kaufkraft steigt. Doch wer genauer auf den Wirtschaftsstandort blickt, entdeckt auch zahlreiche Herausforderungen, die den wirtschaftlichen Wohlstand zwischen Harz und Küste ernsthaft bedrohen. „Der Befund ist in höchstem Maß bedenklich: Niedersachsen ist gegenüber den anderen westdeutschen Flächenländern zurückgefallen“, kommentiert Prof. Michael Hüther vom Institut der deutschen Wirtschaft (IW) eine neue Standortanalyse im Auftrag von Niedersachsen-Metall. Die Wirtschaftsexperten aus Köln kommen zu dem Ergebnis, dass sich die Wirtschaft in Niedersachsen seit 2016 schlechter entwickelt hat als der Bundestrend. „Das Wachstum ist real betrachtet eine Stagnation. Das liegt vor allem daran, dass der Wachstumsmotor Industrie stottert und die Gesamtwirtschaft mit nach unten gezogen hat“, sagt Hüther. Die Wettbewerbsfähigkeit der niedersächsischen Industrie sei insgesamt in Gefahr.

Volker Schmidt und Michael Hüther stellen die IW-Studie zum Industriestandort Niedersachsen vor. | Foto: Link

Ein besonderes Augenmerk richtet die IW-Studie auf die Automobilindustrie, die als bedeutendster Wirtschaftszweig in Niedersachsen für 22 Prozent aller Industriearbeitsplätze und zwei Drittel der industriellen Wertschöpfung steht. Die niedersächsische Schlüsselbranche ist auch für 41,4 Prozent aller Industrieinvestitionen verantwortlich, während es bundesweit nur 22,7 Prozent sind. „Wir sind das Automobilland Nummer 1. Die Krise der Automobilindustrie als Leitbranche schlägt sich voll durch auf andere Branchen“, ergänzt Niedersachsen-Metall-Hauptgeschäftsführer Volker Schmidt. Die Krise der Autoindustrie bekämen auch Maschinenbau, die Stahl- und Bauindustrie sowie das Handwerk zu spüren. „Man kann zwar noch nicht von einem Flächenbrand, aber von einer Kettenreaktion sprechen“, sagt Schmidt und betont: „Wir müssen die Automobilindustrie stabilisieren. Die Umsätze in der Autoindustrie müssen deutlich gesteigert und bestehende Wettbewerbsvorteile konsequent ausgespielt werden.“ Steigende Gewinne würden nicht nur mehr Investitionen in den Standort Niedersachsen bedeuten. „Wir brauchen die starken Umsätze im Verbrennergeschäft auch, um überhaupt weiter in die E-Mobilität investieren zu können“, betont Schmidt. Aufgrund der Vorgaben aus Brüssel und Berlin hätten die Unternehmen zwar „bis zum Limit“ in die Elektromobilität investiert, das Geschäftsfeld werfe aber keine Gewinne ab. Die Verbraucher würden die E-Autos aus mehreren Gründen ablehnen, weshalb die Unternehmen auf massiven Überkapazitäten sitzen bleiben. Schmidt: „Die Fixkosten gehen bei vielen Unternehmen schlicht durch die Decke, was die Verlagerung von Produktion in das kostengünstigere Ausland geradewegs erzwingt, um zu überleben.“

Für die IW-Studie wurden landesweit 263 Industriebetriebe nach ihren Investitionen befragt. Das Ergebnis: Seit 2022 gehen die Inlandsinvestitionen niedersächsischer Unternehmen zurück, während sie im Ausland im zweistelligen Prozentbereich steigen. Derzeit halten 88,6 Prozent der Unternehmen eine Kapazitätserweiterung im Ausland für attraktiver als eine Standorterweiterung in Niedersachsen. Als Gründe dafür nannten die Befragten die Energiekosten (92 Prozent), das makroökonomische Umfeld (91 Prozent), die Abgaben- und Steuerlast (89 Prozent) sowie die Lohnkosten (84 Prozent). „Die Gesamtlage in Deutschland ist nicht berauschend. Davon kann sich Niedersachsen nicht abkoppeln, aber Niedersachsen kann günstige Voraussetzungen schaffen für seine Unternehmen“, sagt Hüther. Sein Appell lautet: „Niedersachsen muss Standortpolitik wieder ernst nehmen und entsprechende Impulse setzen.“ Dass Politik in Niedersachsen handlungsfähig sei, habe sie etwa beim Breitbandausbau bewiesen. Defizite stellt der IW-Chef dagegen bei der digitalen Verwaltung fest. „Da sind andere Flächenländer weiter.“

Wachstumsimpulse für Niedersachsen fordert auch der Niedersachsen-Metall-Chef. Schmidt schlägt fünf Punkte zur Stärkung des Standortes und seiner Industrieunternehmen vor:

Bessere Standortfaktoren: „Wir brauchen eine offensive Steuerpolitik“, sagt Schmidt. Die Körperschaftsteuer müsse schrittweise auf 10 Prozent sinken, zudem fordert er eine Abschaffung des Solidaritätszuschlags auf Unternehmensgewinne. Um die Liquidität der Unternehmen zu verbessern und den Standort Niedersachsen rentabler zu machen, seien Sofortabschreibungen auf Anlagegüter nötig. Die Landesregierung könne hier eine entsprechende Bundesratsinitiative auf den Weg bringen.

Niedrigere Energiekosten: Der niedersächsische Vorstoß für einen günstigeren Industriestrompreis ist zwar bislang erfolglos geblieben. „Wir sind bei den Industriestrompreisen im Grunde nicht mehr wettbewerbsfähig“, sagt Schmidt. IW-Chef Hüther betont zudem, wie wichtig die von der Bundesnetzagentur geplante Neuregelung der Netzentgelte ist. „Wenn die Netzentgelte anders berechnet und verteilt werden, liegt darin ein erheblicher Hebel.“

Fachkräfte sichern: „In den nächsten zehn Jahren verlässt uns nahezu die Hälfte aller Lehrkräfte in den MINT-Fächern, ohne dass auch nur ansatzweise Ersatz in Sicht ist“, warnt Schmidt und sagt: „Ich setze auf die Kultusministerin.“ In der Kultusministerkonferenz habe Julia Hamburg zwar einen schweren Stand, die Ansätze und Ideen der Grünen-Politikerin würden jedoch in die richtige Richtung gehen.

Forschung und Entwicklung stärken: Dank einer Bundesratsinitiative aus Niedersachsen gibt es im Bund seit 2020 zwar eine steuerliche Förderung für Forschung und Entwicklung, aufgrund des hohen Verwaltungsaufwands werde sie aber kaum in Anspruch genommen. „Als Erfinder und Innovator dieses Themas sollte sich die niedersächsische Landesregierung dessen annehmen“, findet Schmidt.

Technologieoffen bleiben: Die Akzeptanz von synthetischen Kraftstoffen schließt das Hochlaufen der Elektromobilität nicht aus, sondern erlaube es vielmehr, mehrere Millionen Fahrzeuge schnell zu dekarbonisieren, meint der Niedersachsen-Metall-Hauptgeschäftsführer. Die Landesregierung solle sich deswegen in Brüssel für eine Nachbesserung beim Verbrennerverbot und den Einsatz von E-Fuels einsetzen.