22. Jan. 2023 · 
Wirtschaft

Industrie- und Handelskammern sehen immer mehr Anzeichen für Deindustrialisierung

Martin Knufinke (von links), Maike Bielfeldt und Mirko-Daniel Hoppe stellen die aktuelle IHKN-Konjunkturumfrage vor. | Foto von Link

Die Ausgangslage ist mäßig, die Erwartungen sind düster: Wie die Industrie- und Handelskammern (IHK) in Niedersachsen berichten, löst sich die Wirtschaft nur langsam aus der Energieschockstarre. Ein Ende der Energiekrise ist nicht in Sicht, stattdessen nimmt das Schreckgespenst der Deindustrialisierung immer mehr Gestalt an. „Die Strom- und Gaspreisbremse bieten zwar eine gewisse Sicherheit, aber die meisten Unternehmen können noch nicht sagen, ob und wie sie davon profitieren“, sagt IHKN-Konjunktur- und Energieexperte Mirko-Daniel Hoppe.

Laut einer aktuellen Umfrage unter 1900 niedersächsischen Betrieben stellen 80 Prozent der Befragten bislang keinen Effekt der Energiepreisbremsen fest. Nur jedes zehnte Unternehmen gibt an, dass ihm die staatlichen Maßnahmen derzeit weiterhelfen. Das liege daran, dass die aktuellen Strom- und Gaspreise wieder unterhalb der Preisbremsen liegen, erklärt Hoppe. Für Industriekunden wurden die Grenzwerte pro Kilowattstunde bei 7 Cent für Erdgas und bei 13 Cent für Strom festgelegt. Für Unternehmen, die einen Jahresverbrauch von weniger als 30.000 Kilowattstunden pro Jahr haben, gilt die gleiche Strompreisbremse wie auch für die Haushalte (40 Cent).

In der niedersächsischen Industrie ist zum Jahresbeginn 2023 wieder etwas Zuversicht eingekehrt. Der IHKN-Konjunkturklimaindikator liegt aber weiterhin deutlich unter dem langjährigen Durchschnittswert. | Quelle: IHKN

„Die exorbitanten Preissteigerungen sind zwar vorläufig gestoppt, das erreichte Preisniveau ist für große Teile der Wirtschaft aber kaum erträglich“, sagt Michael Zeinert, Hauptgeschäftsführer der IHK Lüneburg-Wolfsburg. Er berichtet: „Nicht wenige Unternehmen – insbesondere aus der Industrie – mussten ihre Produktion und ihr Angebot wegen der hohen Energiepreise bereits reduzieren. Einige erwägen sogar, ihre Produktion selbst ins Ausland zu verlagern.“

Die IHK Osnabrück-Emsland-Grafschaft Bentheim kann das sogar mit Zahlen unterlegen. Eine aktuelle Umfrage zur Energiekrise hat ergeben, dass 38 Prozent der Unternehmen bereits Produktion und ihr Angebot eingeschränkt haben. „Das ist besorgniserregend hoch“, sagt der Osnabrücker IHK-Präsident Uwe Goebel. Branchenübergreifend habe sich dieser Wert im Vergleich zum Vorquartal nahezu verdoppelt. In der Industrie denke laut Umfrage jedes vierte Unternehmen über Kapazitätsverlagerungen ins Ausland nach. „Das sind alles Anzeichen von Deindustrialisierung. Diese spiegeln sich vielfach in Umstrukturierungen beim Personal: So wurden etwa Arbeitszeiten reduziert und Kurzarbeit eingeführt“, sagt Goebel. Die Energiepreisentwicklung stelle eine substanzielle Bedrohung für die niedersächsische Wirtschaft dar.

"Die Grundstoffindustrie steckt in der Krise"

„Insbesondere die energieintensive Industrie steht vor riesigen Herausforderungen. Die Grundstoffindustrie steckt in der Krise“, sagt IHKN-Hauptgeschäftsführerin Maike Bielfeldt. Laut Konjunkturumfrage erwartet knapp die Hälfte der Betriebe eine verschlechterte Geschäftslage, bei den Chemieunternehmen sind es sogar 73 Prozent. Bielfeldt hält es jedoch für möglich, dass der vollständige Produktionsstopp im Chemiewerk von Oxxynova in Steyerberg (Landkreis Nienburg/Weser) ein Einzelfall bleibt – wenn die Politik entsprechend reagiert und wettbewerbsfähige Industrieenergiepreise herbeiführt. „Der Staat muss dafür sorgen, dass wir die vorhandene Energie auch nutzen können“, sagt die Volkswirtin und fordert einen beschleunigten Ausbau der Energienetze sowie von Speichertechnologien.

„Es ist ein kleiner Seufzer der Erleichterung – mehr aber auch nicht“, kommentiert IHKN-Hauptgeschäftsführerin Maike Bielfeldt den aktuellen IHKN-Konjunkturklimaindex. Der Stimmungsbarometer der niedersächsischen Wirtschaft ist zwar um 23 Punkte nach oben geklettert, liegt mit 86 Punkten aber weiterhin deutlich unter dem langjährigen Durchschnitt von 106. | Foto: Link

Um die Energieversorgung zu sichern und auszubauen plädiert Bielfeldt für einen Weiterbetrieb der drei verbliebenen Kernkraftwerke zumindest bis zum Ende der Krise. „Dabei muss man den Blick stark auf die beiden Kernkraftwerke im Süden lenken“, so die IHKN-Hauptgeschäftsführerin. Das AKW Emsland in Lingen spiele aufgrund der chronisch verstopften Stromnetze im Norden dabei eher eine untergeordnete Rolle. Dass es keine erkennbare Strategie gibt, wie Atomstrom und russisches Pipelinegas dauerhaft ersetzt werden könnten, bemängelt auch Marco Graf. „Flüssiggas ist auf dem Weltmarkt extrem teuer, Kohle gilt als besonders klimaschädlich, und der angestrebte Ausbau erneuerbarer Energien kommt nur schleppend voran“, stellt der Hauptgeschäftsführer der IHK in Osnabrück fest. Er fordert eine Investitions- und Umsetzungsoffensive sowie steuerpolitische Maßnahmen und einen Vorschriftenabbau. Graf: „Es muss alles dafür getan werden, dass Unternehmen wieder Vertrauen fassen und hier in die Zukunft investieren.“

Die IHK-Vertreter blicken vorsichtig optimistisch auf das Jahr 2023. „Das erste und zweite Quartal werden noch schwierig, im dritten Quartal könnte es wieder bergauf gehen“, sagt Bielfeldt. Die IHKN-Konjunkturexperten rechnen mit einer „Mini-Rezession“. Der milde Winter und der Aufbau der LNG-Terminals mache eine Energienotlage im Winter 2023/2024 zwar unwahrscheinlich, aber nicht unmöglich. Und die erfreuliche Stimmungsaufhellung aus der aktuellen Konjunkturumfrage dürfe nicht fehlinterpretiert werden, sagt Florian Löbermann. Der Hauptgeschäftsführer der IHK Braunschweig warnt: „Eine Eskalation des Krieges in der Ukraine oder eine Verschärfung der Corona-Verhältnisse in China haben jederzeit das Zeug, zusätzliche Preisschübe bei Energie und Rohstoffen hervorzurufen und Lieferketten erneut zu unterbrechen.“

Dieser Artikel erschien am 23.1.2023 in Ausgabe #011.
Christian Wilhelm Link
AutorChristian Wilhelm Link

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