Industrie fordert Wasserstoff: Versorger wollen ab 2026 im großen Stil liefern
Der Erdgas-Ausstieg und der Trend zu klimaneutralen Produkten machen die Industriebetriebe aus dem Raum Hildesheim nervös. Die Unternehmen befürchten, dass sie bei der Versorgung mit klimafreundlichem Wasserstoff ins Hintertreffen geraten könnten, weil die Versorgungsströme entweder an der Region vorbeifließen oder Großabnehmer wie die Salzgitter AG von den knappen Ressourcen für den Mittelstand nichts mehr übriglassen.
Industriebetriebe wollen mit Wasserstoff versorgt werden. Energieunternehmen und Netzbetreiber arbeiten bereits an Konzepten, um den neuen Markt zu erschließen. | Quelle: GettyImages/Scharfsinn86
„Wir sind als Großverbraucher darauf angewiesen, dass wir spätestens 2029 unser Gas ersetzen können, um den Standort hier erhalten können. Und um das Erdgas zu ersetzen, sehe ich momentan keine Möglichkeit außer Wasserstoff“, schilderte Thomas Buschjohann vom Automobil-Zulieferer KSM Castings bei einem digitalen Wasserstoff-Gipfel.
Die Leichtmetall-Gießerei ist mit 1000 Beschäftigten am Stammsitz nicht nur einer der wichtigsten Arbeitgeber in Hildesheim, sondern auch der größte Gasverbraucher der Stadt: Rund 60 Gigawattstunden Gas benötigt KSM jährlich, um die Automobilindustrie mit E-Motorengehäusen, Zylinderkopfhauben, Radträgern und anderen Leichtmetallkomponenten zu versorgen. Ab 1,5 Gigawattstunden pro Jahr zählt man in Deutschland zu den Großverbrauchern.
Buschjohanns größte Sorge betrifft die Wettbewerbsfähigkeit seines Unternehmens – und nicht nur in finanzieller Hinsicht. „Wir haben weltweit Automobilhersteller als Kunden und die sind ja dafür bekannt, dass sie selbst ambitionierte Klimaschutzziele haben. Was den CO2-Fußabdruck betrifft, sind uns unsere Marktbegleiter im Ausland aber teilweise weit voraus“, berichtete der KSM-Chefingenieur. Die Treibhausgasbilanz der Hildesheimer werde von den fossilen Energieträgern verhagelt, die den CO2-Ausstoß der Kraftfahrzeug-Bauteile pro Kilogramm nach oben treiben. „Wenn wir am Standort nicht bald etwas tun, dann wird es schwierig“, warnte Buschjohann.
Richard Huster vom Spezialpapier- und Verpackungshersteller Sappi, der in Alfeld rund 750 Mitarbeiter beschäftigt, wurde sogar noch eine Spur deutlicher: „Mit der Verfügbarkeit von Wasserstoff steht und fällt nicht nur die Zukunft unseres Werks, sondern auch die Zukunft der Industrie in Deutschland“, sagte der Nachhaltigkeitsmanager.
In der Alfelder Papiermühle stellt Sappi jährlich bis zu 275.000 Tonnen Verpackungs- und Spezialpapiere her. Die Zellstoffproduktion geschieht vor Ort mit Holz aus heimischen Wäldern. | Foto: Sappi Alfeld GmbH
Und auch für den SPD-Bundestagsabgeordneten Bernd Westphal, der Unternehmer und Experten zum digitalen Wasserstoff-Forum eingeladen hatte, ist klar: „In der Transformation werden wir ohne grünen Wasserstoff nicht auskommen, die Zukunft muss CO2-frei sein. Und wer lange abwartet, wird am Ende vielleicht nicht mehr die Gelegenheit bekommen, auf den fahrenden Zug aufzuspringen.“
Bernd Westphal | Foto: SPD
Die Unternehmen in Hildesheim können jedoch aufatmen: Mit Gasunie, Nowega und Lhyfe stehen gleich drei überregionale Firmen bereit, um die Region mit Wasserstoff zu beliefern. „Die Gasunie entwickelt schon jetzt das niedersächsische Wasserstoff-Transportnetz“, sagte Kerstin Kiene, die beim niederländischen Netzbetreiber das neue Geschäftsfeld mitentwickelt. „Hyperlink Germany“ heißt das geplante Leitungsnetz, das von Groningen aus bis Wilhelmshaven, Salzgitter, Köln, Hamburg und zur dänischen Grenze reichen soll.
Für die Südniedersachsen ist dabei das Teilprojekt „Hyperlink 2“ von entscheidender Bedeutung, das über Hannover bis zum Stammwerk der Salzgitter AG verlaufen soll. Die Planungen seien bereits gestartet, berichtete die Gasunie-Managerin und kündigte an, dass die Pipeline bereits 2026 zumindest in Teilen „ready for operation“ sein werde. Der Netzausbau werde ungefähr zu zwei Dritteln durch einen Umbau des bestehenden Gasnetzes und zu einem Drittel aus Leitungsneubau umgesetzt. Kiene versicherte zudem, dass auch kleinere Kunden bei der Wasserstoff-Versorgung nicht leer ausgehen sollen. „Uns ist wichtig, dass wir allen Marktakteuren Zugang zur Infrastruktur ermöglichen können“, sagte sie.
Quelle: Gasunie
Gasunie wird den Hildesheimern ihren Wasserstoff mithilfe von „Hyperlink 2“ allerdings nur bis kurz vor die Haustür liefern. Die Abzweigungen in den Landkreis wären ein Fall für den Netzbetreiber Nowega mit Sitz in Münster, der sich mit seinem „Get H2“-Netz von Westen her bis zum Stahlwerk nach Salzgitter vortastet. An das Münsteraner Netz werden unter anderem auch der Wasserstoff-Hub in Lingen, das Thyssenkrupp-Stahlwerk in Duisburg und der Chemiepark Marl angeschlossen. „Das Netz soll sich perspektivisch bis 2030 auch in den Großraum Hannover entwickeln“, sagte Nowega-Projektmanger Christian Schräder.
Grafik: Nowega
Die zeitlich ambitioniertesten Ziele für die Produktion und Lieferung von grünem Wasserstoff aber hat der französische Konzern Lhyfe. „Wir wollen bis 2025 deutschlandweit an jeder Ecke lieferfähig sein“, sagte Geschäftsfeldentwicklerin Astrid Braun. Zunächst soll das geruchlose Gas mittels Lastwagentransporten zu den Endkunden gebracht werden. Ab 2026 soll auch eine direkte Pipeline-Versorgung möglich sein. Dazu will Lhyfe im niederländischen Delfzijl – nur wenige Kilometer von Emden entfernt – eine riesige Produktionsanlage für 80 Tonnen Wasserstoff täglich bauen. Der dazugehörige 200-Megawatt-Elektrolyseur soll mit Strom aus Solar- und Windanlagen gespeist werden.
Von Delfzijl aus plant der französische Konzern eine Pipeline-Verbindung bis Salzgitter und Leipzig. Über diese Pipeline könne Hildesheim ab 2028 mitversorgt werden, sagte Braun. Zudem möchten die Franzosen globaler Vorreiter bei der Offshore-Wasserstoffproduktion werden. Im Atlantik-Hafenort Le Croisic bei Nantes hat Lhyfe im September 2022 einen schwimmenden Elektrolyseur in Betrieb genommen, der direkt von einer Offshore-Windanlage mit Strom versorgt wird. Die Wasserstoffproduktion hat mit gerade mal 400 Kilogramm Wasserstoff (1 Megawatt) pro Tag zwar zunächst nur symbolische Bedeutung. Weitere Projekte dieser Art mit deutlich größeren Ausmaßen sollen jedoch folgen.
Vor der Küste von Le Croisic testet Lhyfe die nach eigenen Angaben erste Offshore-Wasserstoffproduktionsanlage der Welt. Ab 2024 werde der groß angelegte industrielle Einsatz in Betracht gezogen. | Foto: Lhyfe
„Das muss jetzt alles ein bisschen zügiger gehen als in den letzten fünf Jahren, wir brauchen mehr Tempo beim Bau von Elektrolyseuren“, sagte Werner Diwald, Vorstandsvorsitzender des Deutschen Wasser- und Brennstoffzellenverbands (DWV). Der Geschäftsführer des Wasserstoff-Projektentwicklers "PtX Solutions" aus Brandenburg sieht schon jetzt eine riesige Nachfrage für klimafreundlichen Wasserstoff. „Wir könnten sofort einen Markt von 50 Gigawatt etablieren“, sagte er. Die deutschen Produktionskapazitäten würden sich aber nur langsam in diese Richtung bewegen.
Diwald verwies auf Prognosen, wonach die deutsche Produktionsleistung beim Wasserstoff im Jahr 2030 bei gerade mal 4,2 Gigawatt liegen wird und 30 bis 40 Gigawatt importiert werden müssen. Eine der größten Herausforderungen sieht der DWV-Chef bei der Versorgung der Stahlindustrie, auf die durch den Einsatz von grünem Wasserstoff erhebliche Mehrkosten zukommen. „Hier müssen wir dringend Wettbewerbsfähigkeit herstellen“, sagte Diwald.
Diwald rechnete vor, dass sich die Stahlherstellung bei den aktuellen Wasserstoff-Preisen von 445 Euro pro Tonne auf 725 Euro pro Tonne verteuert. Das müsse aber nicht zwangsläufig so sein. Grüner Wasserstoff sei „kein Champagner“, sondern könne in der Herstellung bis 2050 sogar billiger als Erdgas werden. „Noch sehe ich die Preisentwicklung nicht, dass Wasserstoff mal günstiger sein könnte als Gas. Das ist aber immerhin eine Hoffnung“, entgegnete Sappi-Manager Richard Huster.
Werner Diwald | Foto: DWV
Simon Pauli, Vizepräsident des hannoverschen Wasserstoff-Herstellers Aspens, bestätigte diese Einschätzung. „Im Preisgefüge für den grünen Strom muss sich auf jeden Fall etwas tun“, sagte Pauli und plädierte für mehr regionale Wasserstoff-Erzeugung. „Wir brauchen die heimische Produktion nicht nur, damit wir unabhängig werden von Importen, sondern auch deswegen, damit wir die Wertschöpfung, die Fachkräfte und das Knowhow hier im Land behalten. Wir wollen nicht, dass auch diese Technologie wieder abwandert, wie es bei der Photovoltaik passiert ist“, sagte der Wasserstoff-Experte.
Dieser Artikel erschien am 14.6.2023 in Ausgabe #108.