„Im Kirchenamt wurden Entscheidungen nicht getroffen, die nötig gewesen wären“
Ralf Meister, Bischof der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers, steht wegen der Verfehlungen seiner Kirche im Umgang mit Fällen von sexualisierter Gewalt in der Kritik. Nun plant die Kirche einen Kulturwandel – auch mit einem neuen Kopf an der Spitze des Landeskirchenamts: Jens Lehmann. Im Rundblick-Gespräch schildern der Theologe und der Jurist, was schiefgelaufen ist und wie sie es jetzt besser machen wollen.
Rundblick: Im Juni hat sich die Landessynode mit dem Thema der sexualisierten Gewalt beschäftigt. Mit welcher Erwartung sind Sie in die Tagung gegangen?
Meister: Es war dringend notwendig, dass dieses Thema in allen Bereichen der evangelischen Kirche zentral behandelt wird. Das hat es in dieser Form so noch nicht gegeben und das war überfällig. Ich habe öffentlich vor drei Jahren bei der Tagung der Landessynode, unseres Kirchenparlaments, die betroffenen Personen, die sexualisierte Gewalt innerhalb der Kirche erleiden mussten, um Entschuldigung gebeten. Und wir haben schon davor und auch danach im Bereich von Prävention, Intervention und Aufarbeitung vieles auf den Weg gebracht. Aber ich muss rückblickend sagen, dass das nicht genug gewesen ist. Und es haben sich auch längst nicht so viele Menschen in unserer Kirche so intensiv mit sexualisierter Gewalt beschäftigt, wie das jetzt geschieht.
Rundblick: Die Betroffene Nancy Janz hat öffentlich von ihrem Lebens- und Leidensweg berichtet. Was hat das mit Ihnen gemacht?
Lehmann: Das bewegt mich natürlich persönlich sehr. Es ist schmerzhaft, die Berichte der Betroffenen zu hören. Aber es ist uns wichtig, die Betroffenenperspektive direkt wahrzunehmen: Was brauchen sie? Wie können wir sie unterstützen?
Meister: Die unmittelbaren Schilderungen haben Irritation und eine emotionale Schockwirkung ausgelöst. Entscheidend ist es, in diesem Schock nicht stehen zu bleiben, sondern die Herausforderungen anzuerkennen, und zu schauen, wie wir sie konsequent, glaubwürdig und transparent in Antworten umsetzen können. Wir müssen die Betroffenen ernst nehmen, ihnen zuhören, sie bei dem Weg, den Sie mit dieser Erfahrung gehen müssen, unterstützen. Und wir müssen als Institution unserer Verantwortung gerecht werden. Dies sind wichtige Aufgaben, die wir vor uns haben und die wir angehen werden. Wichtig ist uns vor allem die Mitsprache von betroffenen Personen.
Rundblick: Betroffene, die nicht gehört wurden, haben aber auch die Kritik vorgetragen, dass bei der Synode mit Nancy Janz jemand sprechen durfte, der sogar für die Kirche arbeitet. Von Außensicht kann da nicht die Rede sein.
Meister: Ich kann nachvollziehen, dass dies einigen betroffenen Personen Schwierigkeiten macht. Auf der anderen Seite ist Nancy Janz eine der Sprecherinnen der Betroffenenvertretung im Beteiligungsforum der Evangelischen Kirche in Deutschland. Es gab auch andere Kritikpunkte etwa zur Arbeit in den Kleingruppen, die wir ja bewusst so vorbereitet haben, damit die Gespräche intensiv geführt werden konnten, was auch weitgehend gelang. Der wichtigste Vorwurf, den ich auch selbst erhebe: Man braucht viel, viel mehr Zeit. Wir haben noch nicht das ermöglicht, was vielleicht möglich gewesen wäre.
Rundblick: Im Vorfeld und auch im Nachgang der Synodentagung haben mehrere Betroffene Ihren Rücktritt gefordert. Können Sie nachvollziehen, dass es diesen Wunsch nach personeller Konsequenz gibt, die sich auch an Ihrer Person festmacht?
Meister: Ich verstehe das. Menschen haben durch Personen in unserer Kirche unerträgliche Schmerzen erfahren, die sie ein Leben lang nicht mehr loswerden. Und sie haben die Erfahrung gemacht, dass die Institution nicht das geleistet hat, was sie hätte leisten müssen. Sie hat betroffenen Personen das Gefühl vermittelt, dass ihr Leid nicht ausreichend ernst genommen wird und sie nicht die angemessene Aufmerksamkeit erfahren haben. Jemand muss die Verantwortung übernehmen und letztlich die Schuld tragen. Dieses Empfinden halte ich für absolut nachvollziehbar.
Rundblick: Und doch bleiben Sie im Amt.
Meister: Es ist ein intensives, tiefes Nachdenken bei mir gewesen. Die Frage ist doch: Was würde damit verändert? Zudem: Die kirchenleitenden Gremien haben mir das Vertrauen ausgesprochen. Und in Gesprächen, die ich geführt habe, wurde mir immer wieder gesagt, dass man mich für das, was jetzt ansteht, brauchen wird: für eine kurzfristige verbindliche Erarbeitung einer strukturellen Veränderung sowie für den langfristigen Prozess eines Kulturwandels in unserer Kirche. Ich möchte allen, auch den Kritikern, zeigen, dass sie meinen Worten Glauben schenken können und wir die transparente Aufarbeitung der Missbrauchsfälle in unserer Kirche sowie umfangreiche Präventionsarbeit vollumfänglich angehen werden. Die Beschlüsse der Landessynode sind wichtig für das, was wir jetzt direkt verändern können: Die Fachstelle, die für Intervention, Aufarbeitung und Prävention zuständig ist, stocken wir noch einmal deutlich personell auf. Das verbinden wir mit einer größeren Unabhängigkeit der Fachstelle, damit sie noch besser im Sinne der betroffenen Personen arbeiten kann. Wir fördern kurzfristig mit einer halben Million Euro die Präventionsarbeit in unseren Kirchenkreisen und Kirchengemeinden. Und wir werden betroffene Personen viel mehr als bisher an unseren Entscheidungsprozessen beteiligen. Aber es geht um mehr: um Haltungen und geistliche Fragen, und hier etwas zu verändern, wird Zeit brauchen.
Rundblick: Die Kirche hat viele Köpfe, es gibt eine Handvoll kirchenleitende Organe. Wer trägt da nun Verantwortung? Wie viel Verantwortung liegt etwa beim Präsidenten des Landeskirchenamtes?
Lehmann: Ich trage die Verantwortung für die strukturellen, organisatorischen Abläufe, wie mit diesem Thema umgegangen wird. Es fällt mir schwer, im Zusammenhang mit diesen furchtbaren Taten, die uns Betroffene schildern, von Verwaltung zu sprechen. Aber es geht im Umgang damit nicht ohne Organisation, sonst sind wir kopflos. Wenn sich Menschen melden und sagen, sie haben sexualisierte Gewalt erfahren, müssen wir wissen, wie wir ihnen helfen können: Zum Beispiel durch Aufarbeitung und Anerkennungsleistungen. Dafür haben wir die unabhängige „Fachstelle sexualisierte Gewalt“ eingerichtet, die Betroffene berät und begleitet. Und ich trage dafür die Verantwortung, dass diese gut ausgestattet und handlungsfähig ist und dass alle Fälle sorgfältig und gewissenhaft bearbeitet werden. Ich achte darauf, dass die Fachstelle unabhängig arbeiten kann, um betroffene Personen zu unterstützen, und dass wir die Präventionsarbeit noch weiter intensivieren und die Aufarbeitung auch von lange zurückliegenden Fällen voranbringen.
„Wir haben nun einen neuen Präsidenten, der sehr viel entschiedener handeln wird und dafür die volle Rückendeckung hat.“
Rundblick: Umgekehrt muss man nun fragen, woran es gelegen hat, dass die Fachstelle anfangs nicht ausreichend ausgestattet war.
Meister: Die aktuelle Krisensituation der Landeskirche hat zwei wichtige Aspekte: eine Kommunikationskrise und eine Entscheidungskrise. Wir haben gesehen, dass wir mit unseren Haupt- und Ehrenamtlichen nicht ausreichend kommuniziert haben über das, was wir unternommen haben. Eine unzureichende Kommunikation gab es aber auch zwischen den kirchenleitenden Organen. Das andere ist die Entscheidungskrise: Wir haben in den vergangenen Jahren nicht die Entscheidungen gefällt, die wir hätten fällen müssen – auch innerhalb der Verwaltung. Wir haben nun einen neuen Präsidenten, der sehr viel entschiedener handeln wird und dafür die volle Rückendeckung hat. Wir haben in der Landeskirche ein Problem mit Verantwortungsdiffusion. Das bedeutet, dass viele Entscheidungen nicht von einer Person allein getroffen werden, sondern es mehrere zuständige Gremien gibt. Wenn Entscheidungen hier aber nicht getroffen werden, können wir nicht ausreichend schnell intervenieren. Wir brauchen zukünftig mehr Optionen, Verantwortungen zu bündeln und Maßnahmen einzufordern. Hier sind weitreichende strukturelle Änderungen in der Verteilung von Macht in der Landeskirche nötig.
„Mir wurde damals klargemacht, dass die Bearbeitung dieser Fälle bei den Juristen lag.“
Rundblick: Als Sie 2011 nach Hannover gekommen sind, Herr Bischof, hat man entschieden, dass der Kontakt zu Betroffenen nicht über Sie laufen soll. Warum?
Meister: Als ich in die Landeskirche kam, wurde gerade ein System aufgebaut. In dieser Phase hatte ich Gespräche mit betroffenen Personen und habe diese in das Kolleg eingebracht. Allerdings wurde mir damals klargemacht, dass die Bearbeitung dieser Fälle bei den Juristen lag. Mir wurde auch sehr klar gesagt, dass ich die Entschuldigung der Landeskirche nicht so ausgestalten darf, dass sie als Hinweis dienen könnte, dass wir als Institution versagt haben. Ich denke, dass die Institution zu große Angst hatte, Schaden zu nehmen. Das haben wir relativ zügig geändert, aber das war der Tenor, in dem damals die Diskussionen liefen. In unserer Landeskirche war das so, aber nicht nur dort.
„Wir hätten intensiver dranbleiben und nachfragen müssen. Das war ein Fehler.“
Rundblick: Heute beurteilen Sie das anders?
Meister: Heute wissen wir, dass wir völlig anders hätten agieren müssen. Es ist unentschuldbar, zu dem Zeitpunkt noch nicht gespürt zu haben, dass ich in die Fälle von Machtmissbrauch und sexualisierter Gewalt in der Landeskirche mit allem hätte hineingehen müssen, was ich hätte aufbringen können. Das habe ich nicht getan und das ist ein Fehler gewesen. Und dafür bitte ich alle, deren Leid ich dadurch noch vergrößert habe, um Entschuldigung. Wir hätten intensiver dranbleiben und nachfragen müssen, welche Fälle wir noch haben, was mit den betroffenen Personen geschehen ist und wie diese Fälle aufgearbeitet wurden. Durch die Delegation haben wir viele Fälle gar nicht gekannt.
Rundblick: Das alles klingt auch nach einem Zwist zwischen den Juristen und den Theologen.
Meister: Ich weiß nicht, ob es um Theologen und Juristen geht oder mehr um die Frage, wie eine große Organisation mit dem Thema sexualisierter Gewalt umgeht. Zuerst müssen Informationen bekannt werden. Das ist nicht nur ein konventioneller Verwaltungsvorgang, sondern der Umgang mit betroffenen Personen, die Erfahrung mit Gewalt innerhalb der Kirche gemacht haben, dann auch mit beschuldigten Personen. Diese Seiten, unmittelbare emotionale Wahrnehmungen und deren juristische Bearbeitung, müssen aufeinander bezogen werden. Sie müssen aufeinandertreffen, weil es nur mit Empathie Gerechtigkeit gibt.
Lehmann: Wir haben das erkannt und versuchen, diese Gegensätze zu überwinden. Aber klare Strukturen sind auch deshalb wichtig, damit es gerade keine Verantwortungsdiffusion gibt. Verwaltung schafft auch Gerechtigkeit. Ich möchte eine Lanze dafür brechen, das Empathische zu beachten, aber auch Strukturen zu schaffen.
Rundblick: Es ist viel von einem Kulturwandel die Rede. Wie gelingt dieser?
Meister: Das ist ein extrem komplexes Unterfangen, aber es bringt nichts, dazu jetzt lange große Strategiepapiere zu entwerfen, sondern man muss rasch anfangen. Das tun wir etwa mit einem großen Werkstatttag am 10. Dezember, wo es um den Umgang mit Macht in unserer Kirche gehen wird. In der Kommunikation gibt es Prozesse, die man aufbrechen muss: Viele Dinge müssen früher in alle Kreise transportiert werden. In einem zweiten Schritt geht es auch um theologische und liturgische Fragen, die unbewusst oder bewusst Machtstrukturen symbolisieren und zementieren. Müssen beispielsweise bei einer Amtseinführung 80 Pastoren in Talaren einziehen? Und dann gibt es Punkte, an denen wir schon intensiv arbeiten: Die Schutzkonzepte, die in allen Einrichtungen, in jeder Gemeinde eingeführt werden, hinterfragen, wie unsere Kultur des Miteinanders ist: Welche „dunklen Ecken“ gibt es, in der Kommunikation, den Haltungen, den inneren Bildern, die jemanden ängstigen, bedrohen: Wir müssen betrachten, welche Strukturen Machtmissbrauch begünstigen und diese Strukturen aufbrechen. Um dies zu erwirken, müssen wir für strukturelle Gewalt und den Missbrauch von Macht sensibilisieren und den Menschen deutlich machen, dass Missbrauch immer und überall stattfinden kann. Auch in der eigenen Gemeinde. Auch wenn es unvorstellbar ist. Und dass Prävention nur geht, wenn eine ernsthafte Auseinandersetzung stattfindet. Und die Menschen dürfen keine Furcht davor haben, als Nestbeschmutzer dazustehen. Der Schutz betroffener Personen hat oberste Priorität.
„Wir haben klare Interventionspläne. Darin spielt Vergebung keine Rolle.“
Rundblick: Herr Bischof, Sie sagten auf der Synode, dass eine „Theologie der Vergebung“ ein großes Problem gewesen sei beim Umgang mit sexualisierter Gewalt. Diese Theologie sitzt tief in der Kirche, was macht man da?
Meister: Wie Nancy Janz das thematisiert hat, zeigt es einen theologischen Grundbegriff in seiner hohen Ambivalenz. Wir müssen kritisch überprüfen, was dieser Begriff bedeutet und wo er in welcher Form benutzt wird. Man kann eine Vergebung nicht fordern, sie entsteht aus einer inneren Haltung. In traumatischen Situationen kann sich die Aufforderung zu Vergebung wie ein erneuter Missbrauch anfühlen. Solche theologischen Irrtümer müssen wir finden, bearbeiten und vermeiden und für die Zukunft ausschließen.
Lehmann: Als nüchterner Verwaltungsmensch sage ich: Genau deshalb ist es gut, dass wir klare Interventionspläne haben. Wir haben klare Abläufe, die sich nicht um die Frage der Vergebung drehen, sondern um eine Freistellung des beschuldigten Mitarbeiters, eine Anzeige bei der Staatsanwaltschaft, die Einschaltung von staatlichen Behörden. Da spielt der Punkt Vergebung keine Rolle. Vergebung wird weder eingefordert noch angewiesen.
Dieser Artikel erschien am 16.08.2024 in der Ausgabe #139.
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