Hype und Hausschwamm: Wie ein Nutzungsstreit die Marienburg überlagert
Eigentlich sollte hier das Dach auf dem Balken lasten. Doch genau dieser Teil des Holzes, der das Gewicht der Konstruktion tragen sollte, existiert nicht mehr. Bei dem Balken daneben das gleiche. Der „echte Hausschwamm“, ein Pilz, der bei Feuchtigkeit gedeiht, hat sie von der Außenwand her komplett aufgelöst. Er verwandelt das Holz in eine poröse Substanz, die zwischen den Fingern zu Staub zerfällt.
Die Probleme der zwischen 1858 und 1867 in Pattensen bei Hannover erbauten Marienburg beginnen unter dem Dach und setzen sich wie eine sehr langsame Lawine nach unten fort. Die Folgen werden sichtbar, wenn man die aktuelle Hausherrin Christine Fiedler und Jobst Graf von Wintzingerode, Denkmalschützer im Wissenschaftsministerium, bei ihrem „Wartungs- und Kontrollgang“ durch das Welfenschloss begleitet. Das Gewicht des Daches verlagert sich auf die Wände, die dafür nicht ausgelegt sind. In einigen Räumen wurden hölzerne Stützkonstruktionen eingezogen. „Aber auch die Decken können das Gewicht auf Dauer nicht tragen“, erklärt von Wintzingerode. Man sieht grotesk verformte Stuckdecken, die sich mit Feuchtigkeit vollgesogen und ein enormes Gewicht entwickelt haben. Der Stuck war ein Trick des ersten Architekten Conrad Wilhelm Hase, um in einem Bau des 19. Jahrhunderts gotische Gewölbe zu imitieren. Jetzt sieht er aus wie aus einer dystopischen Endzeitvision. „Eigentlich hätte man die Außenwände beim Bau verputzen müssen, damit die Feuchtigkeit nicht durch die Fugen dringt“, sagt der Denkmalschützer. Aber das wollte man nicht, wegen der mittelalterlichen Optik. Ein mittelalterlicher Baumeister allerdings hätte wohl praktischer gedacht. An einer Stelle ist die Wand so dünn, dass man durch einen Riss hindurchschauen kann.
Anders als vergleichbare Denkmäler ist die Marienburg immer in Privateigentum geblieben, wurde aber kaum bewohnt. „Sie ist in einem eingefrorenen Zustand“, beschreibt es Jobst Graf von Wintzingerode. Marie, die letzte Königin von Hannover, lebte nur ein Jahr hier, bevor sie ihrem Gatten 1867 ins Exil nach Österreich folgte. Nach dem Zweiten Weltkrieg war die Welfenfamilie zehn Jahre lang in Pattensen zu Hause. Zusammen mit einer Unmenge von Kunstschätzen aus ihrem Besitz hatten die Engländer sie aus der sowjetisch besetzten Zone hierhergebracht. Die Familie versuchte notgedrungen, Wohnen und Lagern unter einem Dach zu realisieren. So wurden die originalen Wandmalereien mit Tapeten nach dem Zeitgeschmack überklebt und meterhohe Einbauschränke in die musealen Räume gequetscht.
Mit einer spektakulären Auktion wollten sich die Welfen 2005 von einem Teil dieser Last befreien und gleichzeitig Geldmittel generieren – aus der Sicht des Wissenschaftsministeriums ein unwiederbringlicher Verlust für Niedersachsen. Von dem Erlös ist zudem nur ein Bruchteil in den Erhalt des Schlosses geflossen. Um auszuschließen, dass so etwas noch einmal vorkommt, wurden 143 Gemälde für das Landesmuseum in Hannover angekauft und das restliche Inventar durch den Erbprinzen Ernst August von Hannover in eine gemeinnützige Stiftung überführt. Inzwischen ist das Landesmuseum mit einer modernen Restaurierungswerkstatt vor Ort präsent. Bereits fertig ist ein lebensgroßes und beeindruckend lebensnahes Porträt der britischen Königin Charlotte, die seit der Serie „Bridgerton“ nicht nur Historikern ein Begriff ist. Sie musste zunächst von einer Schicht aus toten Käfern befreit werden. „Käfer und Gewitterfliegen sind ein Marienburg-Phänomen“, sagt Christine Fiedler. Die Insekten dringen durch Ritzen und Fugen ein, wenn es draußen ungemütlich wird. Verteilt über das Schloss hängen die Werke, die noch auf ihre Restaurierung warten. Man erkennt sie sofort an den zahllosen Klebestreifen, mit denen die Fachleute die Schadstellen absichern.
Das Ausmaß der Probleme am Dach wurde nach und nach offenbar, seitdem man 2021 einen Wasserschaden im Obergeschoss untersuchte. Als zuständige Bauaufsichtsbehörde hat die Region Hannover die Schließung der Museumsräume veranlasst. „Tragende Strukturen sind durch den Hausschwamm so stark beschädigt, dass die Standsicherheit der meisten Gebäudeteile nicht mehr gewährleistet ist“, erläutert ein Sprecher der Regionsverwaltung. „Eine Nutzung der betroffenen Bauteile ist aus Sicherheitsgründen somit nicht mehr möglich.“
Christine Fiedler ist in einer Doppelfunktion hier: Mit einer halben Stelle ist die studierte Holzrestauratorin beim Landesmuseum angestellt, mit der anderen Hälfte leitet sie befristet bis zum Jahresende die Stiftung, in deren Besitz sich die Marienburg seit 2019 befindet. Im Stiftungsrat ist der Erbprinz ebenso vertreten wie Wissenschaftsminister Falko Mohrs und der Präsident der Region Hannover, Steffen Krach. Fiedler arbeitet von Anfang an in der Stiftung und ist jetzt mit ihrer 50-Prozent-Stelle für alle rechtlichen und baulichen Fragen verantwortlich, ebenso wie für das Marketing. Denn die Stiftung muss Einnahmen für die laufenden Kosten erwirtschaften, rund 250.000 Euro im Jahr. Fiedlers Vorgänger, der Wirtschaftsanwalt Ulrich von Jeinsen, wurde im September abberufen. In seinen Worten klingt der Vorgang so: „Ich wurde genauso abgeschossen wie drei meiner Vorgänger.“ Im kommenden Jahr soll die Position neu besetzt werden. Gesucht werde eine „eierlegende Wollmilchsau“ mit Kompetenzen in Unternehmensführung, Museumsgestaltung, Event- und Gastronomiemanagement sowie Bauüberwachung, beschreibt es von Jeinsen. Zahlen könne die Stiftung für einen solchen Mehrfach-Spezialisten aber nur ein recht bescheidenes Gehalt.
Der Konflikt zwischen ihm und dem Ministerium habe sich an mehreren Reibungspunkten entzündet. „Rechtlichen, technischen und wirtschaftlichen Sachfragen ist der Stiftungsrat, insbesondere das Wissenschaftsministerium, stets ausgewichen“, kritisiert von Jeinsen. Unausgesprochen dahinter stehen nach seiner Wahrnehmung unterschiedliche Auffassungen über das Marketing der Marienburg. Von Jeinsen hat das Schloss als Filmkulisse vermietet für den Serienhit „Maxton Hall“ und den Kinofilm „Die Schule der magischen Tiere 4“ – eine Einnahmequelle, über die Graf von Wintzingerode und Fiedler sich freuen, auch wenn die Dreharbeiten der Amazon Prime-Serie reichlich Zeit und Nerven gekostet haben. Die Bauaufsicht hat für eine begrenzte Zeit und Personenzahl grünes Licht gegeben, nachdem ein Gutachten eingeholt und provisorische Verstärkungen eingebaut worden waren. Die Spuren der Dreharbeiten kann man noch entdecken, wo die edle Vertäfelung von simplen Holzlatten abgestützt wird.
Jetzt müsse man weitermachen, meint von Jeinsen, die Popularität nutzen, die Marienburg als Fotokulisse, als Trauungs-Location und vieles mehr vermieten. „Das Ministerium möchte ein Museum haben. Aber es sagt nichts dazu, woher das Geld für den laufenden Betrieb kommen soll. Vermutlich vom Steuerzahler“, kommentiert er. Bevor der Konflikt mit von Jeinsen eskalierte, war schon der Pächter Nicolaus von Schöning ausgestiegen. Auch für ihn wird ein Nachfolger gesucht: „Jemand mit Herzblut, der langfristig Interesse hat und zum Schloss passt“, beschreibt Fiedler. Seit Generationen hatte die Marienburg vor sich hingedämmert, mit einer betulichen kleinen Ausstellung, die wenig geeignet war, den Stolz der Niedersachsen auf ihr kulturelles Erbe zu befeuern. Von Schönings Ansatz war, das Schloss als stimmungsvolle Kulisse zu inszenieren, mit Open Air-Aufführungen im Schlosshof und einem Weihnachtsspektakel. Den Denkmalschützer und die Restauratorin konnte er damit nicht überzeugen. „Die historischen Räume stehen für sich, sie müssen nicht mit leeren Weihnachtspäckchen dekoriert werden“, sagt Fiedler. Mit einem Weihnachtsbaum in dem geschlossenen Ensemble des 19. Jahrhunderts kann sie sich grundsätzlich anfreunden, jedoch müsse der schon authentisch im Stil der Zeit geschmückt werden: Strohsterne statt Glitzerkugeln. „Der Konflikt“, relativiert Jobst Graf von Wintzingerode, „ist nur ein scheinbarer.“ Stiftung und Ministerium stünden hinter den Filmdrehs, wollen wieder Gastronomie und Trauungen. Nur solle der museale Inhalt im Vordergrund stehen und die Unterhaltung das Vehikel sein, das der Vermittlung von Kultur- und Landesgeschichte dient.
Nach Jahrzehnten kulturellen Dornröschenschlafs und baulichen Verfalls passiert nun alles auf einmal: Die Hiobsbotschaft der Statiker, die Personalquerelen und die weltweite Aufmerksamkeit auf den Drehort von Maxton Hall. Durch den Überraschungserfolg der Serie, scheint es, ist vielen Niedersachsen erst bewusst geworden, was für ein Juwel sie hier haben. Selbst die geschlossene Marienburg zieht verlässlich Touristen an. Die CDU-Fraktion im Landtag drängt darauf, sie wieder für Besucher zu öffnen. „Wir haben jetzt den Effekt und die Landesregierung lässt das einfach liegen“, kritisiert die kulturpolitische Sprecherin Martina Machulla. „Die Menschen wollen die Burg. Eine Komplettschließung geht gar nicht.“ In einem Entschließungsantrag fordert die CDU eine „unabhängige Bestandsuntersuchung des Gebäudes, um abschließend zu klären, ob tatsächlich eine Einsturzgefahr besteht und wie die weitere Nutzung während der Sanierung gesichert werden kann“.
Wer vor dem geschlossenen Burgtor steht, dem kann leicht entgehen, dass das Land mit der Marienburg ebenfalls Großes vorhat: Bis 2030 soll die Sanierung mit Mitteln von Bund und Ländern abgeschlossen sein. Die Experten sind zuversichtlich, dass die zugesagten 27,2 Millionen Euro reichen, wenn sie klug Prioritäten setzen: Das Dach zuerst. Nach dem Willen der Kulturstiftung der Länder, berichtet Jobst Graf von Wintzingerode, soll die Marienburg zum „Best-Practice-Beispiel“ für andere Denkmäler werden. Bereits weit fortgeschritten ist das ausstellungsdidaktische Konzept von Christine Fiedler. Jetzt sei der Zeitpunkt, um sich einen Überblick über das Inventar zu verschaffen und Exponate auszuwählen, erklärt sie. Eventuell könne man 2025 schon einzelne Bereiche wieder für kleinere Ausstellungen öffnen. Für sie wird der Zeitplan nicht von einem Social Media-Hype diktiert: „Das Schloss gibt vor, was passiert“, meint sie.
Dieser Artikel erschien am 19.12.2024 in der Ausgabe #226.
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