Prof. Adolf Windorfer, Vorsitzender der Stiftung „Eine Chance für Kinder“ und früherer Präsident des Landesgesundheitsamtes, warnt vor dem Problem einer „emotionalen Kinderarmut“. Es sei zwar richtig, dass Kinder aus finanziell armen Familien unter einem erschwerten Zugang zu Bildung und sozialer Entwicklung leiden würden, wie dies kürzlich erst wieder von der Diakovere und dem Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung in einer Studie herausgearbeitet worden ist. Entscheidend sei jedoch, dass es in vielen dieser Familien neben einer finanziellen Armut vor allem gegenüber den Kindern eine ausgeprägte Lieblosigkeit herrsche, analysiert Prof. Windorfer.

Die daraus resultierende emotionale Kinderarmut hindere Kinder und Jugendliche in ihrem weiteren Leben daran, sich für Bildung zu begeistern, am sozialen Leben teilzunehmen und Verantwortung zu übernehmen. Als Grundstein für ein gelingendes Leben betrachtet Prof. Windorfer eine gute Mutter-Kind-Bindung. Dabei bezieht er sich etwa auf den Hirnforscher Prof. Gerald Hüther und zitiert diesen: „Unser Hirn ist ein Sozialorgan – und es wird Zeit, dass wir es auch so behandeln.“
Das menschliche Gehirn strukturiere sich anhand der Erfahrungen, die man im Laufe des Lebens mache, und die entscheidenden Erfahrungen würden in der Herkunftsfamilie gemacht. „Die neuronalen Beziehungsmuster in unserem Gehirn sind deshalb Ausdruck und Folge dieser im Zusammenleben mit den Mitgliedern der Familie gemachten Beziehungserfahrungen“, zitiert Windorfer weiter.
Kinder brauchen demnach zuerst Liebe, Wärme und Ermutigung durch die Eltern, um dann in den Jugendjahren durch Vorbilder und Stärkung Selbstvertrauen zu entwickeln, woraus sich Lebensinteresse und Lebensmut bilde. Als junge Erwachsene bauen sie dann darauf auf und entwickeln Empathie und Solidarität – und machen etwas aus ihrem Leben.

Die Stiftung „Eine Chance für Kinder“ hat es sich seit ihrer Gründung vor mehr als 20 Jahren in Hannover zur Aufgabe gemacht, gelingende Lebensbiografien durch eine Stärkung der Mutter-Kind-Bindung zu fördern. Durch die „Frühen Hilfen“, etwa durch Familienhebammen oder Familien-Gesundheitspfleger, sollen jene 12 bis 15 Prozent der Kinder erreicht werden, die in emotional prekären Verhältnissen aufwachsen. Doch das Geld, das vom Bund für diese Hilfsmaßnahmen an die Kommunen gezahlt wird, reiche bei weitem nicht aus, bemängelt Prof. Windorfer.
„Im Durchschnitt können in den Kommunen aus finanziellen und personellen Gründen nur vier bis fünf Prozent der gefährdeten Kinder von Fachkräften für ,frühe Hilfen‘ betreut werden“, sagt er. Zum Schutz der Kinder sei es deshalb unerlässlich, zum einen die Qualifizierung der Fachkräfte zu verbessern und zum anderen die Bundesförderung für alle deutschen Kommunen von derzeit 51 Millionen Euro auf 105 Millionen zu erhöhen, fordert der Stiftungsvorsitzende.
Außerdem wendet sich Prof. Windorfer an die niedersächsische Landespolitik. Diese solle das seit über zehn Jahren erfolgreich laufende Schulprojekt mit dem Titel „Lebensplan“ übernehmen und damit dauerhaft sichern. Dabei handelt es sich um ein Projekt, das die Stiftung seit 2009 in Förder- und Hauptschulen der Stadt Hannover anbietet und zum Ziel hat, Lebensmut und Interesse an einer Lebensperspektive bei 13- bis 16-jährigen jungen Menschen zu wecken.

Einen Schwerpunkt dieser Kooperation, bei der Externe im Schulunterricht eingesetzt werden, bildet das Instrument der sogenannten „emotionalen Sexualkunde“. Junge Menschen, bei denen emotionale Instabilität und fehlende Sexualaufklärung Hand in Hand gehen, sollen nach Geschlechtern getrennt entweder von Familienhebammen über Schwangerschaft und Verhütung oder von Sozialpädagogen über gesunde Sexualität und durch Pornografie verzerrte Bilder aufgeklärt werden. Ziel ist es, dass die Jugendlichen lernen, etwas Sinnvolles mit sich und ihrem Körper anzufangen und schließlich Verantwortung dafür zu übernehmen – anstatt Unbehagen mit sich selbst durch Alkohol- und Drogenkonsum oder Gewalt zu kompensieren.