Europäische Lokalpolitiker entdecken in Niedersachsen die Mobilität der Zukunft
Birgit Honé fühlt sich sichtlich wohl im Führerhaus eines Zuges. Ihr Urgroßvater habe den Bahnhof Hamburg-Harburg geleitet, erzählt sie später. Wegen dieser Vergangenheit haben Züge in ihrer Familie immer eine große Rolle gespielt. Dieser Urgroßvater, erzählt sie weiter, sei damals noch mit der Draisine zu zwei Zügen gefahren worden, wenn diese miteinander gekoppelt werden sollten. Seitdem habe sich der Schienenverkehr enorm weiterentwickelt, meint die Ministerin für Bundes- und Europaangelegenheiten. Sie wirkt zugleich bewegt und begeistert, wenn sie das ausspricht. Und das stimmt: Der Sprung von der durch Körperkraft betriebenen Draisine hin zu jenem Zug, in dem Honé nun im Führerhaus saß, ist gewaltig. Denn jener Zug war einer der ersten Wasserstoff-Züge, die es auf der Welt überhaupt gab.
Entwickelt und gefertigt wird er im niedersächsischen Salzgitter – und hier gesellt sich zum Bewegtsein und der Begeisterung auch ein wenig Stolz bei der SPD-Politikerin hinzu. Als sie sich die Anlage der Firma Alstom jüngst hat zeigen lassen, war sie nämlich in Begleitung zahlreicher europäischer Kommunal- und Lokalpolitiker. Honés Mission: Zeigen, wie in Niedersachsen die Mobilität von morgen erschaffen wird.
18 Mitglieder des sogenannten „Ausschusses der Regionen“, der Versammlung der Regional- und Kommunalvertreter der EU, waren auf Einladung der Landesministerin nach Niedersachsen gekommen. Sie stammen aus Rumänien, Zypern, Ungarn, Luxemburg, der Slowakei, Lettland, Estland, Griechenland, Dänemark und Deutschland. Alle gemeinsam stehen sie vor der Herausforderung, wie sie bei sich vor Ort die hoch gesteckten Ziele des europäischen „Green Deal“ in die Praxis umsetzen können. Bis 2050 möchte die Europäische Union komplett klimaneutral sein. Das ist nicht zuletzt für den Mobilitätssektor eine große Herausforderung. Honé gab vor ihren Gästen nun die Losung aus, dass man nur gemeinsam die Lösungen für diese große Herausforderung finden könne, und dass man voneinander lernen müsse auf diesem Weg.
Eine besondere Aufgabe kommt dabei Linda Gaasch zu. Die Gemeinderätin aus Luxemburg-Stadt hat innerhalb der „Fachkommission für Kohäsionspolitik und EU-Haushalt“, jener Untergruppe des Ausschusses der Regionen, die nun Niedersachsen bereist hat, die Rolle der Berichterstatterin für das Themenfeld Zukunft der Mobilität in der Stadt übernommen. Auf der Reise nach Salzgitter und Braunschweig hat sie an den verschiedenen Stationen wichtige Informationen für ihre Arbeit sammeln können. Den Berichterstattern, erklärte Europaministerin Honé am Rande der Reise, komme eine wichtige Funktion zu. Sie müssen für ihren Zuständigkeitsbereich die vielen Eindrücke und Informationen bündeln und zu zukunftsweisenden Berichten zusammenfassen. Sie sind quasi der Motor der Gremien im Ausschuss der Regionen.
Wir sehen hier, wie die Zukunft aussehen kann. Was wir nun brauchen, ist Mut bei der Politik aber auch bei den Firmen, diesen Weg einzuschlagen. Aber es zahlt sich aus.
Linda Gaasch
„Wir sehen hier, wie die Zukunft aussehen kann“, sagte Gaasch dem Politikjournal Rundblick. „Was wir nun brauchen, ist Mut bei der Politik aber auch bei den Firmen, diesen Weg einzuschlagen. Aber es zahlt sich aus.“ Im Programm, das vom Europaministerium organisiert wurde, habe ihr besonders gut gefallen, dass es nicht rein akademischer Natur war, sondern dass die Dinge greifbar gemacht worden seien. In Salzgitter durfte Gaasch nicht nur nach Ministerin Honé auch einmal den Wasserstoff-Zug von Alstom fahren, sondern ihn auch betanken. Die Luxemburgerin konnte zudem noch mehr in Niedersachsen erfahren:
Wasserstoff als Treibstoff der Zukunft:
Im Jahr 2014 haben sich bei Alstom die ersten Ingenieure Gedanken darüber gemacht, wie das Transportwesen klimaschonender gestaltet werden kann. Zwei Jahre später haben sie begonnen, den ersten Wasserstoff-Zug zu bauen, um diesen dann möglichen Kunden vorzustellen – im Jahr 2018 folgte die Weltpremiere. Optisch sind die Wasserstoff-Züge nicht von bislang geläufigen Diesel-Zügen zu unterscheiden. Auf ihren Dächern speichern sie in Tanks den Wasserstoff, ebenfalls auf dem Dach wird daraus in Brennstoffzellen Strom erzeugt und in Batterien zwischengespeichert. Eingesetzt werden sollen die Nahverkehrszüge mit Wasserstoff-Antrieb künftig auf jenen Strecken, auf denen es sich wegen der geringen Auslastung nicht lohnt, ein Stromnetz zu installieren.
Bislang fahren die Züge auf solchen Abschnitten mit Diesel-Antrieb. Bereits ab Juni sollen die ersten Bahnreisenden in Niedersachsen ganz regulär mit einem Wasserstoff-betriebenen Zug fahren können: auf der Bahnstrecke Cuxhaven-Buxtehude. Doch wie gut sich das Produkt auf dem Weltmarkt wird durchsetzen können, bleibt abzuwarten. „Wir erwarten, dass der Preis für Wasserstoff immer weiter sinkt“, erklärte Christian Bieniek, Geschäftsführer der Alstom-Niederlassung in Salzgitter, der europäischen Delegation. „Aber es bleibt natürlich zunächst ein Schritt heraus aus der Komfortzone.“
Ein Testfeld für selbstfahrende Autos:
Die zweite Station der Delegationsreise war der Weg selbst. Auf einem Teil der Strecke zwischen Salzgitter und Braunschweig haben die europäischen Lokalpolitiker das niedersächsische Testfeld für autonomes Fahren beobachten können. So richtig viel zu sehen gab es dabei zwar nicht, und auch der Reisebus wurde noch ganz klassisch von einem Fahrer gesteuert. Doch ein Mitarbeiter des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR) erläuterte den Gästen, wie die Forscher anhand von unzähligen Daten, die am Rande der Autobahn aufgezeichnet und verarbeitet werden, ihr Wissen über Verkehrsflüsse immer weiter ausbauen wollen. Am Ende, so die Hoffnung der Wissenschaftler, können es die vernetzten Fahrzeuge schaffen, sich auch ohne Fahrer unfallfrei durch den Straßenverkehr zu bewegen.
Eine Allee für die Verkehrsforschung:
In Braunschweig angelangt, bot sich den Delegierten eine futuristische Forschungslandschaft. Entlang einer langen halbwegs geraden Straße fädeln sich wie Perlen auf einer Kette nach und nach neue (und teilweise bislang nur geplante) Institute der Technischen Universität Braunschweig und anderer Forschungseinrichtungen. Sie alle eint die Suche nach der Mobilität der Zukunft. An der „mobility alley“ steht etwa ein Parkhaus, in dem Wissenschaftler daran tüfteln, wie Autos das automatisierte Einparken in einer geschützten, fest definierten Umgebung erlernen können. Irgendwann sollen auf der langen Allee auch selbstfahrende Autos unterwegs sein und tatsächlich Mensch und Material von A nach B transportieren. Bis dahin forscht ein Team etwa daran, wie sehr sich die Menschen darauf einlassen würden, bestimmte Beförderungsmittel mit anderen zu teilen. Ein Unteraspekt dieser Forschung entwickelt modulare Fahrzeuge, auf deren Karosserie je nach Bedarf unterschiedliche Aufsätze angebracht werden können – je nachdem, ob sie Personen, Pakete oder Lebensmittel befördern sollen.
„Das Mobilitätsland Niedersachsen hat den Besucherinnen und Besuchern gezeigt, dass es bei dem Aufbau nachhaltiger Verkehrsformen sehr gut aufgestellt ist“, erklärte Regionalministerin Honé nach Abschluss der Delegationsreise und betonte: „Wir setzen die EU-Förderung für eine grüne Transformation hin zu Klimaneutralität ein, unter anderem für innovative Projekte im öffentlichen und individuellen Verkehr.“ Niedersachsen nutze so den „Green Deal“ der EU, um regionale Wertschöpfungsketten zu fördern, wie die Besucher sie nun im Braunschweiger Raum bewundern konnten.
Dieser Artikel erschien am 16.05.2022 in der Ausgabe #091.
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