Nein, über Wasser ist Martin Schulz nicht gegangen, als er am Mittwochabend in Hannover aufgetreten ist. Zum Anfang hat es draußen kräftig geregnet, der kalte Wind pfiff, doch drinnen, im vollgefüllten Veranstaltungssaal des „Capitol“, wo sonst Pop- und Rock-Größen singen, war beste Stimmung. Die Niedersachsen-SPD hatte ihre erste Veranstaltung des Kanzlerkandidaten und Parteivorsitzenden Martin Schulz vor einem größeren, ihm freundlich gesonnenen Publikum. Viele Beobachter mutmaßen seit Beginn des „Schulz-Effektes“, dieser Politiker könne wahre Wunder vollbringen, könne fast schon über Wasser laufen, wenn er es denn wolle. Den Beweis dafür blieb Schulz in Hannover schuldig – und doch schaffte er es, die Zuhörer zu wahren Jubelstürmen anzuspornen. Da musste Ministerpräsident Stephan Weil, der neben dem Parteichef auf der Bühne stand, schon ein bisschen staunen. Bei Weil haben die Anhänger kräftig geklatscht. Bei Schulz war alles doppelt so stark, fast euphorisch.

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Woran liegt es? Was hat Schulz, was andere nicht haben? Der Kandidat hat ein Thema, das er in unterschiedlichen Variationen seine ganze dreiviertelstündige Rede lang vorträgt: Dass die „kleinen Leute“ keine Wertschätzung in der Gesellschaft erfahren im Vergleich zu den „großen Leuten“ – und das sind wahlweise die Reichen, die Mächtigen, die Gebildeten oder schlicht die, die gerissener sind oder mehr Glück im Leben gehabt haben. Schon zur Einstimmung, kurz vor Beginn der Schulz-Rede, tritt ein Rapper auf die Bühne und hämmert den Zuhörern förmlich zwei Begriffe ein: „Veränderung“ und „Gerechtigkeit“. Schulz selbst erwähnt zwei andere Worte in seiner Rede weitaus häufiger: „Respekt“ und „Würde“. Gern wird er dabei verfassungspatriotisch, ganz wie ein amerikanischer Wahlkämpfer, der von der Unabhängigkeitserklärung schwärmt. Der erste Artikel des Grundgesetzes, der bestimmt, dass die Würde des Menschen unantastbar ist, wird von ihm mehrfach zitiert. Zu Beginn und ganz am Ende, mitten im Vortrag auch noch einmal.

Martin Schulz bei seinem Auftritt im Capitol in Hannover – Foto: isc

Dazwischen erzählt Schulz kleine Geschichten, keine Anekdoten, sondern Episoden aus dem Leben. Der Mann aus Würselen, der stolz ist auf die kleinstädtische, fast dörfliche Herkunft, redet über den Busfahrer, der morgens um fünf mit der Arbeit beginnt und genauso viel Respekt verdient habe wie die Krankenschwester, die im Operationssaal neben dem Chirurgen steht – und ohne deren Hilfe der Chirurg seine wunderbaren Operationen nicht machen könne. Da kommt starker Applaus auf. Schnell ist Schulz bei der nächsten Episode, er redet über die Menschen, die heute mit 30, 35 oder auch erst 40 ihre Kinder bekommen – und dann erleben, wie sie noch für die Ausbildung von Sohn oder Tochter zahlen müssten, gleichzeitig aber schon Eltern haben, die pflegebedürftig sind. „Da sagen dann viele: Mir geht’s gar nicht so schlecht, aber ich kann oft nicht mehr.“ Die Leute, sagt Schulz, dürften psychisch, physisch oder auch finanziell „nicht in die Knie gezwungen werden“. Es gehe auch nicht an, dass zwei Gutverdiener einer Familie in manchen Ballungsräumen zu Monatsende das Geld „zusammenkratzen“ müssen, um die hohe Miete begleichen zu können.

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Die Rede kreist um mehrere Forderungen, die Schulz zwar nicht konkretisiert, dafür aber mehrfach wiederholt, damit sie sich bei den Zuhörern gut einprägen: mehr Personal für die Pflege und eine „Aufwertung“ dieser Berufe; mehr Qualifizierung für Arbeitnehmer und die Verringerung des Abstandes zwischen arm und reich; mehr Wohnungsbau und faire Mieten; mehr Gleichberechtigung der Frau und das Recht auf Rückkehr von Teilzeit- zu Vollzeitstellen; mehr Lohngerechtigkeit und weniger Möglichkeiten für hochbezahlte Manager, Boni steuerlich geltend zu machen. Dem Vorwurf, solche Gedanken seien zu allgemein, entgegnet Schulz, dass er ja „zuhören und aufnehmen wolle“. Man könne den Wahlkampf mit dem Schreiben eines Programms beginnen, wie es Stefan Miersch (er meint Matthias Miersch) aus Hannover gut könne – aber das wolle er nicht, er wolle nah bei den Menschen sein und von ihnen lernen.

Schulz präsentiert sich seinem Publikum als einer von unten, einer von denen, für die er mehr Anerkennung einfordert, die außerhalb des Establishments und der Reichen, Schönen und Mächtigen stehen. Das wird in einer Passage ganz deutlich, als er davon redet, „ein Gefühl für die einfachen Leute“ entwickeln zu wollen, „die wie ich kein Abitur haben“. Applaus ertönt daraufhin. Man habe ihm gesagt, fügt er hinzu, dass jemand ohne Abitur nicht Kanzler werden könne. „Wenn man das hört, ist das ein mangelnder Respekt vor der Lebensleistung. Ich höre viele Leute, die sagen: Ihr da oben, ihr habt keinen Respekt vor uns.“ Dafür erntet er wieder kräftigen Beifall, und in diesem Moment ist Schulz nicht der frühere EU-Parlamentspräsident und auch nicht der mächtige SPD-Funktionär, sondern auf einer Stufe mit dem Busfahrer und der Krankenschwester, über die er anfangs so ausführlich gesprochen hatte.

Die Veranstaltung im „Capitol“ endet mit viel Lob, Applaus und Wir-Gefühl, und dem hiesigen Landesvater Stephan Weil, den Schulz „eine herausragende Persönlichkeit und einen hervorragenden Ministerpräsidenten“ nennt, versichert er volle Unterstützung für den Landtagswahlkampf. So schließt das Schulz-Spektakel in Hannover nach gut zwei Stunden harmonisch und beschwingt. Draußen hat es inzwischen aufgehört zu regnen – also doch ein kleines Wunder. (kw)