Der Unternehmensberater Heino Wiese aus Hannover, russischer Honorarkonsul in Niedersachsen, setzt sich vehement für die Erneuerung der SPD ein. Dies könne geschehen, indem die Partei sich wieder denen zuwendet, die „die Politik von Willy Brandt“ vertreten. Er sieht durchaus Chancen, dass sich die SPD wieder erholen und erneuern kann. Dazu gehöre unbedingt auch ein außenpolitisches Profil, das mehr von Pragmatismus und weniger von Ideologie geprägt ist. Wiese äußert sich im Gespräch mit der Redaktion des Politikjournals Rundblick.

Rundblick: Herr Wiese, kürzlich wurde bekannt, dass unser früherer Ministerpräsident Sigmar Gabriel neues Aufsichtsratsmitglied bei der Deutschen Bank wird. Wie, meinen Sie, wird das in der SPD diskutiert werden?

Eine Partei  wie die SPD muss auf ihre eigene Geschichte mit Stolz blicken. Meinung ist, dass dieser Schritt von ihm Klasse ist. Wenn er sein Wissen und seine Fähigkeiten an dieser Stelle einsetzt und den Kurs der Bank kritisch begleitet, kann das nur vom Vorteil für uns alle sein. Gabriel ist ein talentierter Politiker, einer, der die Stimmungen und Strömungen der Menschen gut aufnehmen kann. Außerdem hat er ein gutes Gespür für politische und gesellschaftliche Entwicklungen. So jemand kann für die Deutsche Bank und deren  97.000 Mitarbeiter von großem Vorteil sein.

Rundblick: Warum, meinen Sie, sehen das viele in der SPD anders als Sie?

Wiese: Weil es in der SPD starke Kräfte gibt, die auf Ausgrenzung setzen. Zu der Zeit der Bundesvorsitzenden Andrea Nahles vertrat die SPD-Spitze die Devise, dass die politischen Botschaften von Gerhard Schröder, Franz Müntefering und Sigmar Gabriel falsch gewesen seien und man nun eine Kurskorrektur vornehmen müsse. So ein Verhalten ist gefährlich. In der SPD wirken viele Menschen seit vielen Jahren oder Jahrzehnten mit, die früher aus Überzeugung Wahlkampf für Schröder, Müntefering und Gabriel gemacht haben – und die sollten nun auf einmal die Position vertreten, ihre früheren Ansichten seien alle falsch gewesen? Eine Partei  wie die SPD muss auf ihre eigene Geschichte mit Stolz blicken. Tut sie es nicht, wie es in der Nahles-Zeit geschah, so wirkt sie geschichtsvergessen. Das darf nicht geschehen.

 Eine Partei  wie die SPD muss auf ihre eigene Geschichte mit Stolz blicken.

Rundblick: Sie meinen also, die Agenda 2010 sei nach wie vor im vollen Umfang richtig?

Wiese: Das habe ich so nicht gesagt. Als Schröder dieses Modell eingeführt hat, war es richtig und angemessen, das „Fordern“ stärker zu betonen und Sozial- und Arbeitslosenhilfe zusammenzulegen. Wir hatten damals eine hohe Arbeitslosigkeit, es fehlten Anreize für die Aufnahme neuer Tätigkeiten. Auch heute bin ich der Meinung: Wer als Akademiker in seiner Disziplin keine Arbeit findet, sollte auch bereit sein, einen anderen Weg einzuschlagen. Heute ist die Situation eine völlig andere als damals, wir haben jetzt praktisch Vollbeschäftigung. Deshalb sieht man zu Recht heute viele Fragen anders als zu der Zeit, in der die Agenda 2010 entworfen wurde. Nur: Deshalb waren die damaligen Entscheidungen alles andere als falsch und auch Gerhard Schröder hat nichts dagegen, wenn man die Agenda 2010 verändert.

Rundblick: Inzwischen haben wir eine neue Parteiführung, Norbert Walter-Borjans und Saskia Esken stehen an der Spitze. Wird jetzt alles besser – oder noch schlechter?

Wiese: Nach dem Rücktritt von Andrea Nahles ist in der SPD etwas Anarchisches gewachsen, eine Stimmung, die sich gegen das Establishment richtet. Dass Olaf Scholz, der Vizekanzler, in der Abstimmung zum Parteivorsitz verloren hat, kann ich bis heute nicht nachvollziehen. Vielleicht hätte Stephan Weil, wenn er angetreten wäre, die Chance auf eine breite Mehrheit gehabt. Wir müssen jetzt sehen, wie es weiter geht. In der gegenwärtigen Konstellation sehe ich jedenfalls auch eine Chance: Norbert Walter-Borjans wird womöglich in der Lage sein, eine jüngere Nachwuchshoffnung aufzubauen und der SPD ein zukunftsweisendes Image zu geben. Ausgeschlossen ist das nicht.


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Rundblick: Und wenn diese Nachwuchshoffnung Kevin Kühnert hieße?

Wiese: Mag ja sein. Als Gerhard Schröder noch Juso-Vorsitzender war, hatten ihn auch einige als einen Lümmel bezeichnet, dem sie einen Aufstieg nie zutrauten. Er hat sich trotzdem entwickelt und die Partei zu großen Wahlerfolgen geführt. Warum sollte das bei Kühnert nicht auch möglich sein – eventuell in einem Team zwischen ihm und SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil? Die Chance besteht. Allerdings hatte Schröder den Vorteil, dass er sich an starken Figuren in der Parteiführung reiben konnte, an Willy Brandt, Holger Börner und Egon Bahr. Sie hatten ihn mehr als einmal in die Schranken gewiesen. Solchen Widerspruch von der Parteispitze muss Kühnert heute nicht befürchten, und das ist nicht unbedingt positiv.

Rundblick: Noch ein anderer Name kommt verstärkt ins Gespräch: Franziska Giffey soll neue Berliner SPD-Landesvorsitzende werden, womöglich auch Spitzenkandidatin für die nächsten Abgeordnetenhauswahlen in Berlin. Wäre Giffey eine geeignete nächste SPD-Kanzlerkandidatin?

Wiese: Uneingeschränkt ja, aber die Hauptstadt ist für die SPD immens wichtig und deshalb ist es gut, dass sie sich dafür entschieden hat.

Nach dem Rücktritt von Andrea Nahles ist in der SPD etwas Anarchisches gewachsen, eine Stimmung, die sich gegen das Establishment richtet.

Rundblick: Braucht die SPD ein anderes inhaltliches Profil, wenn sie wieder Erfolg haben will?

Wiese: Wir dürfen den Kontakt zu den Leuten nicht verlieren, die bei VW arbeiten, bei der Conti oder auch bei den Versicherungen. Digitalisierung, Automatisierung und Globalisierung bedrohen viele Arbeitsplätze, wenn wir nur an den Wandel zur Elektromobilität denken. Die Politik sollte maßvoll vorgehen und Veränderungen sozial abfedern. Ideologische Scheuklappen in der Wirtschaftspolitik bringen uns nicht weiter, sie schaden unserem Export. Ein Beispiel: Wegen der Russland-Sanktionen konnte eine deutsche Firma keine Windenergieanlagen in Russland bauen – prompt ist General Electric eingesprungen. Oder ein anderes: Der Bau eines VW-Werkes in der Türkei ist gegenwärtig politisch nicht erwünscht, also sind die ausländischen Konkurrenten am Zuge. Dabei wäre ein VW-Werk in der Türkei ein Beitrag zur demokratischen Entwicklungshilfe, da sich mit der Fabrik auch die Prinzipien von Projektmanagement und Mitbestimmung in der Türkei etablieren könnten. Das gäbe einer Region, in der übrigens die sozialdemokratischen Kemalisten die Mehrheit haben, einen Schub nach vorn.

Rundblick: Sollte die Landesregierung hier aktiv werden – und wie?

Wiese: Landes- und Bundesregierung sollten voranschreiten und VW ermutigen, das Werk in der Türkei trotz der Widerstände zu bauen. Das würde uns einen neuen Markt erschließen und gleichzeitig die zivilgesellschaftliche Entwicklung in der Türkei fördern. Und die Sozialdemokraten sollten sich auch nicht beirren lassen, wenn Umstellungen in der Klimapolitik etwas mehr Zeit brauchen. Ob die Braunkohlekraftwerke fünf Jahre später vom Netz gehen als bisher geplant, ist für die Atmosphäre nicht bedeutsam. Für die Chance, Arbeitsplätze auf neue Tätigkeiten zu schulen, kann diese Zeit entscheidend sein. Außerdem müssen ideologische Scheuklappen im Außenhandel weg: Seit dem Start der Russland-Sanktionen sind beispielsweise die Exporte der Fleischwirtschaft aus dem Oldenburger Land komplett weggefallen. Auch darüber sollte mal diskutiert werden.