Eine Partei wie die SPD muss auf ihre eigene Geschichte mit Stolz blicken.
Rundblick: Sie meinen also, die Agenda 2010 sei nach wie vor im vollen Umfang richtig?
Wiese: Das habe ich so nicht gesagt. Als Schröder dieses Modell eingeführt hat, war es richtig und angemessen, das „Fordern“ stärker zu betonen und Sozial- und Arbeitslosenhilfe zusammenzulegen. Wir hatten damals eine hohe Arbeitslosigkeit, es fehlten Anreize für die Aufnahme neuer Tätigkeiten. Auch heute bin ich der Meinung: Wer als Akademiker in seiner Disziplin keine Arbeit findet, sollte auch bereit sein, einen anderen Weg einzuschlagen. Heute ist die Situation eine völlig andere als damals, wir haben jetzt praktisch Vollbeschäftigung. Deshalb sieht man zu Recht heute viele Fragen anders als zu der Zeit, in der die Agenda 2010 entworfen wurde. Nur: Deshalb waren die damaligen Entscheidungen alles andere als falsch und auch Gerhard Schröder hat nichts dagegen, wenn man die Agenda 2010 verändert.
Rundblick: Inzwischen haben wir eine neue Parteiführung, Norbert Walter-Borjans und Saskia Esken stehen an der Spitze. Wird jetzt alles besser – oder noch schlechter?
Wiese: Nach dem Rücktritt von Andrea Nahles ist in der SPD etwas Anarchisches gewachsen, eine Stimmung, die sich gegen das Establishment richtet. Dass Olaf Scholz, der Vizekanzler, in der Abstimmung zum Parteivorsitz verloren hat, kann ich bis heute nicht nachvollziehen. Vielleicht hätte Stephan Weil, wenn er angetreten wäre, die Chance auf eine breite Mehrheit gehabt. Wir müssen jetzt sehen, wie es weiter geht. In der gegenwärtigen Konstellation sehe ich jedenfalls auch eine Chance: Norbert Walter-Borjans wird womöglich in der Lage sein, eine jüngere Nachwuchshoffnung aufzubauen und der SPD ein zukunftsweisendes Image zu geben. Ausgeschlossen ist das nicht.
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Rundblick: Und wenn diese Nachwuchshoffnung Kevin Kühnert hieße? Wiese: Mag ja sein. Als Gerhard Schröder noch Juso-Vorsitzender war, hatten ihn auch einige als einen Lümmel bezeichnet, dem sie einen Aufstieg nie zutrauten. Er hat sich trotzdem entwickelt und die Partei zu großen Wahlerfolgen geführt. Warum sollte das bei Kühnert nicht auch möglich sein – eventuell in einem Team zwischen ihm und SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil? Die Chance besteht. Allerdings hatte Schröder den Vorteil, dass er sich an starken Figuren in der Parteiführung reiben konnte, an Willy Brandt, Holger Börner und Egon Bahr. Sie hatten ihn mehr als einmal in die Schranken gewiesen. Solchen Widerspruch von der Parteispitze muss Kühnert heute nicht befürchten, und das ist nicht unbedingt positiv. Rundblick: Noch ein anderer Name kommt verstärkt ins Gespräch: Franziska Giffey soll neue Berliner SPD-Landesvorsitzende werden, womöglich auch Spitzenkandidatin für die nächsten Abgeordnetenhauswahlen in Berlin. Wäre Giffey eine geeignete nächste SPD-Kanzlerkandidatin? Wiese: Uneingeschränkt ja, aber die Hauptstadt ist für die SPD immens wichtig und deshalb ist es gut, dass sie sich dafür entschieden hat.
Nach dem Rücktritt von Andrea Nahles ist in der SPD etwas Anarchisches gewachsen, eine Stimmung, die sich gegen das Establishment richtet.
Rundblick: Braucht die SPD ein anderes inhaltliches Profil, wenn sie wieder Erfolg haben will?
Wiese: Wir dürfen den Kontakt zu den Leuten nicht verlieren, die bei VW arbeiten, bei der Conti oder auch bei den Versicherungen. Digitalisierung, Automatisierung und Globalisierung bedrohen viele Arbeitsplätze, wenn wir nur an den Wandel zur Elektromobilität denken. Die Politik sollte maßvoll vorgehen und Veränderungen sozial abfedern. Ideologische Scheuklappen in der Wirtschaftspolitik bringen uns nicht weiter, sie schaden unserem Export. Ein Beispiel: Wegen der Russland-Sanktionen konnte eine deutsche Firma keine Windenergieanlagen in Russland bauen – prompt ist General Electric eingesprungen. Oder ein anderes: Der Bau eines VW-Werkes in der Türkei ist gegenwärtig politisch nicht erwünscht, also sind die ausländischen Konkurrenten am Zuge. Dabei wäre ein VW-Werk in der Türkei ein Beitrag zur demokratischen Entwicklungshilfe, da sich mit der Fabrik auch die Prinzipien von Projektmanagement und Mitbestimmung in der Türkei etablieren könnten. Das gäbe einer Region, in der übrigens die sozialdemokratischen Kemalisten die Mehrheit haben, einen Schub nach vorn.
