27. Nov. 2019 · 
Bildung

Philologen fordern bundesweit verbindliches Abitur-Niveau

Von Martin Brüning „I feel good”, singt die Band „Bloom” des Werner-von-Siemens-Gymnasiums in Bad Harzburg im Veranstaltungssaal des Hotels Achtermann in Goslar, in dem der Philologentag traditionell stattfindet. Auch Kultusminister Grant Hendrik Tonne scheint sich gut zu fühlen, obwohl, wie er selbst sagt, der Besuch des zuständigen Ministers bei den Gymnasiallehrern von vielen wieder einmal als „Gang nach Canossa“ oder als Weg in „die Höhle des Löwen“ bezeichnet wird. [caption id="attachment_45632" align="alignnone" width="780"] Niedersachsens Kultusminister Grant Hendrik Tonne mit dem Chef des Philologenverbandes Horst Audritz - Foto: MB.[/caption] „Wir bekommen das irgendwann noch hin, dass das hier ein ganz normaler Austausch wird“, fragt Tonne, und eigentlich ist es das im Jahr 2019 bereits. Auch in diesem Jahr bleibt die Stimmung gegenüber dem Minister friedlich, selbst wenn an einem Punkt seiner Rede lautes Getuschel im Saal einsetzt. Dazu später mehr.
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Zuvor spart der Verbandsvorsitzende Horst Audritz nicht mit Kritik. So sieht er Abiturienten aus Niedersachsen im Bundesvergleich im Nachteil. Beim Abiturdurchschnitt liege das Land mit einem Wert von 2,55 auf dem letzten Platz. „Das sind unhaltbare Zustände, so kann es nicht weitergehen. Die Niedersachsen sind schließlich nicht dümmer“, stellt Audritz fest. Er hält es für fragwürdig, dass in Berlin ein besserer Abiturdurchschnitt erzielt wird, obwohl das Land bei der Bildungsqualität Träger der roten Laterne sei. „Da ist etwas faul, und den Preis dafür Preis müssen unsere Schüler mit schlechteren Chancen nach dem Abitur bezahlen.“

An ein Bundeszentralabitur glaubt Audritz nicht

Die Lösung ist für Audritz ein bundesweit verbindliches Niveau. Dieses dürfe sich aber nicht an den schwächsten, sondern müsse sich an den stärksten Ländern orientieren. Genau das ist ein wichtiger Streitpunkt in der Bildungspolitik, an dem für Audritz auch der Nationale Bildungsrat gescheitert ist, aus dem sich Bayern vor wenigen Tagen verabschiedet hat. Keine Lösung ist für den Vorsitzenden des Philologenverbands ein Bundeszentralabitur, weil er es in naher Zukunft für nicht realisierbar hält. https://soundcloud.com/user-385595761/gymnasiallehrer-fordert-mehr-fairness-bei-abi-prufungen Sorgen bereitet Audritz auch die Bildungsqualität schon weit vor der Abiturprüfung. Niedersachsen müsse den Anspruch haben, zu den führenden Bundesländern bei Unterrichtsversorgung, Qualität der Abschlüsse und der pädagogischen Qualität zu gehören. Im Bildungsmonitor der Initiative für soziale Marktwirtschaft liege das Land aber nur auf dem neunten Platz. Audritz fällt auch nach wie vor zu viel Unterricht aus. „Wenn Unterricht nicht stattfindet, entzieht sich das Land seiner Verantwortung. Bildung findet dann immer mehr im Elternhaus und in außerschulischen Einrichtungen statt. Von Chancengerechtigkeit kann dann keine Rede mehr sein“, warnt er und appelliert an den Kultusminister: Schluss mit dem Vorangehen im Schneckentempo, Abwarten und dem Beruhigen an der Bildungsfront. Tonne müsse entschlossen handeln. https://open.spotify.com/episode/6IYEX2n8e5ObkZ0jou6aBM?si=aZG8btOeTxS--JsACs4TlA Am Freitag ist der Unterrichtsausfall derweil in vielen Schulen aufgrund der „Fridays for future“-Demonstrationen schon eingepreist. Ihnen steht Audritz zwiespältig gegenüber. Er freue sich darüber, dass Schüler sich engagierten. „Sie haben das Recht, ihre Interessen zu vertreten. Das Recht darf aber nicht dazu führen, dass man sich Sonderrechte herausnimmt.“ Auch gute Ziele rechtfertigten keine Rechtsbrüche. Das Recht auf Unterricht sei ein historisch lange demokratisch erkämpftes Recht. „Bei allem Verständnis für politisches Engagement: Schule darf nicht lahmgelegt werden.“ Klimaschutz muss Audritz zufolge Einzug in die Kerncurricula der verschiedenen Fächer nehmen.

Wer die höchsten Prämien bezahlt, hat dann die meisten Lehrer. So kommen wir nicht an die Wurzel des Problems.


Genau beim Thema Kerncurricula wird es während der Rede von Kultusminister Grant Hendrik Tonne plötzlich unruhig im Saal. Tonne hatte am Rednerpult gerade laut darüber nachgedacht, ob man künftig Kerncurricula mehr „als Rahmen verstehen“ müsste, um mehr Freiheit an der Schule zu erreichen. Mit dem aktuellen System habe man Probleme, auf der Höhe der Zeit zu bleiben, die Nachbesserungen würden im kleinteiliger. Ein kritischer Punkt bei den Philologen. Audritz sagt im Anschluss im Gespräch mit dem Politikjournal Rundblick, schon jetzt müssten die Kerncurricula kontinuierlich auf schuleigene Lehrpläne umgearbeitet werden. Dadurch sei der Stoff in den Schulen unterschiedlich verteilt, was zum Beispiel diejenigen, die eine Klasse wiederholen müssen oder die Schule wechseln, vor große Schwierigkeiten stelle. Für die Philologen steht deshalb fest, dass es eher weniger als mehr Freiräume geben müsste, um das System wieder unkomplizierter zu gestalten. https://twitter.com/Unter_3/status/1199643379438628864 Tonne hakt in seiner Rede ansonsten die üblichen Punkte ab, ohne anzuecken. Über Arbeitszeiten müsse weiter verhandelt werden, man werde einen langen Atem brauchen, um Unterrichtsversorgung, Bedarf und Entlastungen zueinander zu bringen, Verbesserungen beim Lehrkräftemangel würden erst „auf Strecke“ wirksam. Freundlichen Applaus bekommt er für die Ankündigung, im kommenden Schuljahr die Anrechnungsstunden für schulfachliche Koordinatoren anzuheben.

Goslars OB Junk kritisiert "Dorfprämie"

„Neue Produktidee“, würde das Goslars Oberbürgermeister Oliver Junk nennen. In seiner wie jedes Jahr launigen Begrüßungsrede sagt er, Tonne komme wie die Start-up-Unternehmer in der Sendung „Die Höhle des Löwen“ des Fernsehsenders Vox immer mit einer neuen Produktidee zum Philologentag. Von einer Produktidee Tonnes hält Junk allerdings wenig, der sogenannten Dorfprämie, die Junk „Buschzulage“ nennt. Er befürchtet, dass die Prämie zu einer Art Wettbewerb führen könnte. „Wer die höchsten Prämien bezahlt, hat dann die meisten Lehrer. So kommen wir nicht an die Wurzel des Problems.“ Goslars Oberbürgermeister meint, es müssten nicht die Symptome bekämpft, sondern die Krankheiten geheilt werden. Verkehrswege seien instand zu setzen, Bahnen und Busse müssten fahren und die Funknetze ausgebaut werden. Kurz: Infrastrukturoffensive würden einen Landkreis attraktiver machen, nicht Sonderprämien. https://soundcloud.com/user-59368422/wurden-sie-schon-opfer-von-hassnachrichten-herr-tonne Über die Digitalisierung sprachen Audritz und Tonne bei diesem Philologentag deutlich weniger als erwartet, obwohl doch in diesem Jahr „Arbeiten und Lernen 4.0“ über der Einladung stand. Vielleicht ist abseits der Digitalisierung im Bildungssystem einfach genug zu tun. Audritz warnte vor „großartigen Zukunftsplänen in Form von Luftschlössern“. Zunächst einmal müssten die Fundamente gelegt werden, mahnte er.
Dieser Artikel erschien in Ausgabe #211.
Niklas Kleinwächter
AutorNiklas Kleinwächter

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