Die Diakonie in Niedersachsen warnt vor einem ernstzunehmenden volkswirtschaftlichen Schaden durch den anhaltenden Fachkräftemangel in den Pflege- und Erziehungsberufen. „Es gibt erste Kommunen, in denen die Kindergärten nicht mehr eine ganztägige Betreuung in den Kern- und Randzeiten anbieten können“, sagte Diakonie-Vorstandssprecher Hans-Joachim Lenke am Montag in der Jahresmitgliederversammlung seiner Organisation.

Wenn die Betreuung der Kinder nur noch für sechs Stunden gewährleistet werden könne, werde es nicht gelingen, dass die Eltern noch acht Stunden arbeiten – da blieben dann nur noch fünf Stunden für den eigenen Beruf, führte er aus. So löst der Mangel an qualifizierten Erziehern eine Kettenreaktion aus, die sich mittelfristig negativ auf die Volkswirtschaft auswirken könnte. Der Mangel an Fachkräften in der Alten- und Krankenpflege werde diesen Trend noch verschärfen, sind sich die Fachleute einig. Wenn die Versorgungsarbeit nicht mehr von Fachpersonal geleistet werden könne, wenn immer mehr Pflegebetriebe aufgeben müssten, wandere die Pflegearbeit zurück in die Familien und binde dort Kapazitäten, die wiederum andernorts fehlen – etwa in Schulen, im Handwerk oder auch in der Industrie.
Infolgedessen spricht sich Diakonie-Chef Lenke dafür aus, die Standards in der Pflegekräfteausbildung notgedrungen abzusenken. Dieser Forderung schließt sich auch Arbeitsminister Andreas Philippi (SPD) an. Bei einer verkürzten Pflegeassistentenausbildung, bei der Menschen mit Vorerfahrung bereits ins zweite Ausbildungsjahr einsteigen können, werde natürlich auch die Menge des Unterrichtsstoffes eingedampft, räumte Philippi ein. Im Vordergrund stehe nun aber die Aufgabe, rasch „helfende Hände“ ins System zu kriegen. „Natürlich brauchen wir extrem gut qualifiziertes Personal. Aber was nützt es mir, wenn es zu wenige sind und ich deshalb nicht alle behandelt kriege?“, fragte Philippi rhetorisch in die Runde.

Vorsichtig formulierte er, dass es etwa bei der Anerkennung von ausländischen Abschlüssen „vielleicht nicht immer den hundertprozentigen Nachweis“ brauche. Lenke fasste die Notlage folgendermaßen zusammen: „Wir brauchen Menschen vor Ort, wir brauchen sie sofort.“ Entscheidend sei es für ihn, dass niemand nach der verkürzten Ausbildung in eine Starre verfalle, sondern das vielzitierte Ideal des lebenslangen Lernens Anwendung finde: „Wir müssen die Mitarbeiter dann on-the-job weiter qualifizieren – etwas, das in unserer Gesellschaft ohnehin gefordert ist.“
Diesen Aspekt unterstützte auch Eva-Maria Heine, Personalchefin bei Continental in Hannover-Stöcken, die neben der Freiwilligendienstleistenden Rebecca Nicolausen bei der Diakonie-Mitgliederversammlung Ratschläge zur Fachkräftegewinnung formulieren sollte. Heine berichtete, dass ihre Branche vor ähnlichen Herausforderungen stehe, weshalb man bei Continental einen internen Bildungsträger eingerichtet habe. „Wir haben auch un- und angelernte Mitarbeiter am Band, die wir dringend weiterqualifizieren müssen.“ Außerdem schlugen sie vor:
Frühzeitig werben: „Es ist wichtig, die Menschen früh für Berufe zu begeistern und nicht erst kurz vor dem Schulabschluss damit zu beginnen“, erklärte Personalchefin Heine. Man dürfe gar nicht erst zulassen, dass sich Gerüchte und Vorurteile in den Köpfen festsetzen. Nicolausen ergänzte aus ihrer Erfahrung, dass an ihrem Gymnasium hauptsächlich für Studiengänge geworben wurde – Ausbildungsberufe wären aber auch hier gut gewesen, ist die Freiwilligendienstleistende überzeugt. Es sei wichtig, deutlich zu machen, dass Pflege viel mehr sei als „Fäkalien wegzuwischen“.

Freiwilligendienste stärken: Rund 60 Prozent derjenigen, die bei der Diakonie einen Freiwilligendienst leisten, ergreifen anschließend auch einen sozialen Beruf, berichtete Lenke. Deshalb sei es das falsche Signal, wenn in Berlin über Kürzungen beim Freiwilligendienst nachgedacht werde, sagte er. Von einem Pflichtdienst hält er derweil wenig, solange es noch mehr Bewerber als freie Plätze gebe, wie das derzeit der Fall ist. Als Beispiel diente am Montag Nicolausen, die nach dem Abitur ein Freiwilliges Sozial Jahr im Christlichen Kinderhospital Osnabrück begonnen hat und nun ein duales Studium zur Pflegefachkraft aufnehmen möchte.
Abstriche machen: Die vielbeschworene „eierlegende Wollmilchsau“ werde man nicht mehr finden, mahnte Heine. Für ausgeschriebene Stellen suche man noch häufig den einen Bewerber, der alles könne: Anfang 20, Auslandserfahrung, mehrsprachig – „das gibt es nicht und das braucht es auch nicht“, sagt Heine. Viel wichtiger sei es, begeisterte Menschen zu finden.

Vertrauen bilden: Dokumentationspflichten sind seit langem ein Ärgernis im Pflegebereich. Diakonie-Chef Lenke sprach nun von einer „Kultur des Misstrauens“, die sich zwischen Kassen und Leistungserbringern herausgebildet habe. Er versicherte aber: „Ein Großteil der Häuser hat nicht die Primäraufgabe zu schauen, wie sie die Kassen betrügen können, sondern wie sie ihre Patienten versorgen können.“ Sozialminister Philippi sagte daraufhin, er wolle die Partner, die sich derart misstrauen, an einen Tisch bringen. Zudem hoffe er auf weniger bürokratische Lasten durch mehr Digitalisierung.
Vorbild und Führung: Die Diakonie als Arbeitgeber biete etwas, das junge Leute schätzen: eine Tätigkeit mit Sinn, erklärte Heine. Es sei sicher nicht verkehrt, wenn es in der Welt mehr Vorbilder gäbe, die das verkörpern, insbesondere männliche Vorbilder. Wichtig sei es zudem, Führungskräfte zu haben, mit denen sich die Mitarbeiter identifizieren können.