Am 24. Februar griff Russlands Herrscher Wladimir Putin gegen jede Vernunft und gegen jedes rationale Kalkül die Ukraine an. All die diplomatischen Bemühungen, die in den Tagen zuvor besonders intensiv und rege gewesen sein mussten, stellten sich als erfolglos heraus. Wie stark hat dieses Ereignis die deutsche Gesellschaft erschüttert? Haben wir Lehren daraus gezogen – und, wenn ja, waren es die richtigen Lehren? Wie gut finden wir uns damit ab, dass der Traum von der friedfertigen, nach Vernunft und Toleranz geordneten Welt nun endgültig ausgeträumt ist? Die Rundblick-Redaktion beleuchtet in persönlichen, einordnenden Beiträgen einige Teilprobleme, die sich aus Putins mörderischem Völkerrechtsbruch ergeben. Hier geht’s zum Dossier.

Ein Jahr tobt der Krieg in der Ukraine: Rundblick-Redakteur Christian Wilhelm Link schreibt über die Auswirkungen auf die Bundeswehr. I Foto: Scheffen, Canva

Überschattet von der ersten Ukraine-Krise fand 2014 ein Nato-Gipfel in Wales statt. Damals einigten sich die Bündnispartner angesichts der russischen Bedrohung auf eine verstärkte Truppenpräsenz an der Ostflanke sowie auf eine 2-Prozent-Zielmarke bei den Verteidigungsausgaben. Dass diese Vereinbarung von der Bundesrepublik sonderlich ernst genommen wurde, kann man nicht behaupten. Im Wehretat wurde auch die kommenden Jahre hinweg nur das Nötigste genehmigt – und teilweise nicht einmal das. Die Knauserigkeit nahm geradezu absurde Züge an. Um die bis zu 350.000 Soldaten mit einer neuen Grundausstattung auszurüsten, wollte sich die Bundesregierung ursprünglich bis 2031 Zeit lassen. Erst durch das 100-Milliarden-Euro-Sondervermögen kam hier zumindest etwas Tempo in die Sache. Die Vollausstattung der Truppe mit Schutzwesten, Gefechtshelmen, Kampfbekleidung und Rucksäcken soll nun bis Ende 2025 abgeschlossen werden. Im Jahr darauf wird endlich auch das neue Sturmgewehr von Heckler & Koch kommen, dessen Einführung dann seit der Auswahlentscheidung fünf Jahre gedauert haben wird.

„Angesichts einer fehlenden Gesamtstrategie ist es kein Wunder, dass sich die deutsche Rüstungsindustrie zuletzt so weit gesundgeschrumpft hat.“

Planungssicherheit für Unternehmen sieht anders aus. Und angesichts einer fehlenden Gesamtstrategie ist es dann auch kein Wunder, dass sich die deutsche Rüstungsindustrie zuletzt so weit gesundgeschrumpft hat, dass sie ebenso wie die Streitkräfte auf ein Belastungsszenario wie einen Krieg in Europa gar nicht mehr vorbereitet ist. Die Lager von Bundeswehr und Industrie leeren sich durch die Waffenlieferungen in die Ukraine viel schneller, als sie in einem überschaubaren Zeitrahmen wieder aufgefüllt werden können. Und das ist nicht einmal ein rein deutsches Problem. Die ukrainische Armee verschießt im Kampf gegen Russland mehr Munition, als die Rüstungsfirmen der Nato-Staaten herstellen können.

Experten warnen: Sondervermögen für die Bundeswehr reicht nicht

Der Pharmaindustrie ist während der Covid-19-Pandemie das Kunststück gelungen, die Produktion neuartiger Impfstoffe innerhalb kurzer Zeit massiv hochzufahren. Im Rekordtempo wurde etwa im hessischen Marburg eine ehemalige Novartis-Fabrik für die Herstellung des Biontech-Vakzins umgebaut. Nur etwa drei Monate dauerte es, um die Produktionskapazitäten von null auf mehrere hundert Millionen Impfdosen jährlich zu steigern. Eine außergewöhnliche Leistung, die auf dem Höhepunkt der Corona-Krise vor allem auch dadurch möglich wurde, dass es aus Politik und Gesellschaft entsprechenden Rückhalt gab. Schließlich hatte der Aufbau einer Impfinfrastruktur allerhöchste Priorität.


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Eine vergleichbare Entschlossenheit hat es seitdem nur bei der Sicherstellung der deutschen Gasversorgung gegeben. Genauso wie beim Ausbau der erneuerbaren Energien ist auch der Aufbau einer leistungsfähigen Rüstungsindustrie dagegen nur Stückwerk geblieben. Das Sondervermögen für die Bundeswehr wurde zwar von Bundeskanzler Olaf Scholz als gewaltiger „Wumms“ (so die Kanzler-Wortwahl) präsentiert. Verteidigungsexperten hatten jedoch frühzeitig davor gewarnt, dass das Geld bei Weitem nicht ausreichen wird, um die deutschen Streitkräfte nach jahrelanger Vernachlässigung wieder auf Vordermann zu bringen. Die Wehrbeauftragte des Bundestages, Eva Högl, bezifferte den Finanzbedarf zwischenzeitlich sogar auf 300 Milliarden Euro. Im Gegensatz zum bisher eingeplanten Sondervermögen würde Deutschland damit immerhin endlich das 2-Prozent-Ziel reißen.

„Dass Boris Pistorius das ineffiziente und ungleich komplexere Beschaffungswesen der Bundeswehr revolutioniert, wäre eine Überraschung.“

Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius hat inzwischen einen engen Schulterschluss mit der Industrie angekündigt, um Produktionskapazitäten auszuweiten und Lieferungen zu beschleunigen. Hoffentlich hat der Bundesverteidigungsminister dabei ein glücklicheres Händchen als in seiner Zeit als Innenminister, in der er die niedersächsische Polizei nicht gerade zur Hightech-Truppe aufrüstete. Dass der SPD-Politiker nun das ineffiziente und ungleich komplexere Beschaffungswesen der Bundeswehr revolutioniert, wäre eine Überraschung – zumal Bundeskanzleramt und Ampel-Koalition eher halbherzig hinter einer dringend nötigen Strukturreform der deutschen Rüstungswirtschaft stehen. Die Erkenntnis, dass insbesondere die stark regulierte Wehrindustrie langfristige Finanzierungszusagen benötigt, scheint sich nur tröpfchenweise durchzusetzen.



Der Aufbau einer Rüstungsindustrie ist zwar weder für Kampf gegen den Klimawandel förderlich, noch bringt er den Industriestandort Deutschland wirklich voran. Die Wehrindustrie ist nicht mehr als eine Nischenbranche. Unter den 100 größten Rüstungsunternehmen der Welt sind mit Rheinmetall, ThyssenKrupp, Hensoldt und Diehl gerade mal vier deutsche Konzerne vertreten, die zusammen nur 1,6 Prozent des Weltmarkts abdecken und mit ihren Waffenverkäufen etwa 9 Milliarden Euro Umsatz machen. Solange es aber noch Staaten gibt, die andere Staaten überfallen, muss auch Deutschland jederzeit in der Lage sein, sich und seine Bündnispartner zu verteidigen. Dazu sind gut gefüllte Waffendepots ebenso wichtig wie eine leistungsfähige Industrie, die schnell Nachschub herstellen kann. Auch ein Jahr nach Kriegsbeginn in der Ukraine fehlt beides in Deutschland.