Vor dem 23. Mai soll in vielen Veranstaltungen an den 75. Geburtstag des Grundgesetzes erinnert werden. Zu diesem Anlass hat Ministerpräsident Stephan Weil am vergangenen Dienstag eine Reise in die Gedenkstätte des Konzentrationslagers Bergen-Belsen unternommen. „Wir Politiker handeln heute unter Bedingungen, die schwieriger sind als früher“, erklärte Weil. Die Erinnerung an das Grundgesetz müsse aus seiner Sicht an Orten wie in Bergen-Belsen beginnen, denn ohne das unermessliche Leid des Nationalsozialismus sei das Regelwerk der Verfassung nicht zu verstehen.

Während der Reise des Ministerpräsidenten trug Prof. Simon T. Franzmann vom Institut für Demokratieforschung in Göttingen die neuesten Erkenntnisse des „Demokratie-Monitors 2023“ vor. Seit einigen Jahren werden Bürger nach ihren Einstellungen zur Demokratie befragt, und die Resultate sollen im August abgeschlossen sein und vorgestellt werden. Franzmann berichtete jetzt schon von einigen bemerkenswerten Zwischenergebnissen. So habe sich im Vergleich zu 2019 der Anteil derer, die besonders unzufrieden sind, nahezu verdoppelt. Erfahrungsgemäß seien die Altersgruppen der Menschen über 70 und der jungen Leute zwischen 16 und 29 diejenigen, die immer eine recht hohe Zufriedenheit mit dem politischen System zeigen. In beiden Gruppen aber sei die Zahl derer, die massiv unzufrieden sind, stark gewachsen. Mehr als 50 Prozent aller Befragten habe überdies angegeben, dass die Politik die Probleme der Menschen nicht löse.
Nach Franzmanns Einschätzung ist die Lage in Niedersachsen stabiler als im bundesweiten Durchschnitt, das Vertrauen in die Institutionen sei hier noch relativ hoch. Nach dem Ende der Corona-Krise aber habe insgesamt das Zutrauen in die Institutionen nachgelassen, das sei auch in Niedersachsen zu spüren. Ein Thema, an dem sich viele Sorgen und Ängste festmachten, sei die Migration. Eine höhere Zufriedenheit spüre man in Großstädten, vor allem solchen mit Universitäten. In industriellen Regionen leide die Zustimmung zur Politik besonders stark. Der südniedersächsische Raum um Braunschweig, Göttingen und Wolfsburg zeichne sich durch eine besonders große Distanz zu den staatlichen Einrichtungen aus, in den übrigen Gegenden des Landes sei das weniger ausgeprägt.
Was das Zutrauen zu den einzelnen Eliten und Institutionen angeht, rangiere die Polizei immer noch an oberster Stelle. Das Bundesverfassungsgericht habe an Autorität eingebüßt, liege aber immer noch weit oben. Es folgten dann der Verfassungsschutz, der öffentlich-rechtliche Rundfunk, die Parteien und die Politiker. Gerade Parteien und Politiker hätten aber massiv an Ansehen eingebüßt – wenn auch ihr Ruf in Niedersachsen immer noch viel besser sei als beispielsweise in den ostdeutschen Bundesländern. Auf die Frage, woran der Vertrauensverlust liegen mag, verweist Franzmann auf eine sich verbreitende Ansicht, dass die Zukunftsaussichten eher düster seien und die Politik keine Antwort auf die drängenden Probleme habe. Weil sagt später, dass die Politiker heute nicht besser oder schlechter seien als die in früheren Generationen. Man müsse sich mehr Mühe geben, „auf das einzugehen, was die Menschen jeden Tag beschäftigt“. Dafür sei die Preissteigerung als Sorge vor wirtschaftlicher Not ein Beispiel. Man müsse den Verschwörungstheorien begegnen, indem man auch in den medialen Kanälen mitwirke und gegensteuere, die vorwiegend von Demokratiefeinden genutzt werden. Ein Beispiel dafür sei Tiktok.
In der Gedenkstätte Bergen-Belsen erklärten die stellvertretende Leiterin Katrin Unger und der Leiter der Forschungsstelle, Akim Jah, wie sie versuchen, die geschichtlichen Vorgänge an junge Menschen besser als bisher zu vermitteln. „Bergen-Belsen soll nicht nur ein Ort der Opfer sein, wir wollen auch auf die Täter hinweisen“, erklärt Unger. Jah ergänzt, die Dörfer in der Umgebung des NS-Konzentrationslagers seien „involviert gewesen“. Die Bewohner hätten Handel mit dem Lager betrieben, als Wachleute gearbeitet oder in anderer Weise von den Vorgängen, die in Bergen-Belsen geschahen, gewusst.