10. Apr. 2024 · Wirtschaft

„Das Deutschlandticket könnte dem ländlichen Raum massiv schaden“

In der Politik gilt das „Deutschlandticket“ als gewaltiger Erfolg. Für die öffentlichen Verkehrsunternehmen zeigt die „größte Tarifrevolution im ÖPNV“ jedoch immer deutlicher ihre Schattenseiten. Bei der Frühjahrstagung des Verbands Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV) in Niedersachsen und Bremen wurde das D-Ticket dementsprechend kritisch betrachtet, von Euphorie keine Spur.

Verkehrsexperten aus ganz Niedersachsen und Bremen treffen sich bei der VDV-Frühjahrstagung. | Foto: Link

„Das Deutschlandticket ist eine populärpolitische Maßnahme mit Streuwirkung. Das wirkt sich überwiegend stark bei denen aus, die gute Arbeitsplätze im Innenstadtbereich und einen langen Pendelweg haben“, analysierte Gunnar Polzin, Abteilungsleiter Verkehr im Bremer Senat für Bau, Mobilität und Stadtentwicklung. Während die ÖPNV-Kunden in teuren und gut ausgebauten Tarifgebieten vom neuen Einheitsticket profitierten, hätten Fahrgäste in weniger entwickelten Netzbereichen kaum einen Mehrgewinn.

Offiziell gelte das D-Ticket mit 10,5 Millionen Kunden zwar als Erfolgsmodell. Allerdings habe man nur etwa 500.000 wirklich neue ÖPNV-Nutzer gewinnen können, wogegen die Zusatzkosten von Bund und Ländern bei drei Milliarden Euro pro Jahr liegen. „Wenn man das umrechnet, zahlt der Staat 6000 Euro für jeden Neukunden“, stellte Polzin nüchtern fest und fügte ebenso trocken hinzu: „Es ist unklar, für welches Problem das Deutschlandticket eigentlich eine Lösung darstellt.“ Keiner der Verkehrsunternehmer widersprach dieser Aussage.

Die Fliege und streitbare Thesen sind seine Markenzeichen: Gunnar Polzin. | Foto: Link

Dass der aktuelle Ticketpreis von 49 Euro auf Dauer zu halten ist, glaubt beim Branchenverband kaum jemand. Solange es aber noch nicht verbrauchte Mittel aus dem Vorjahr gibt, die ins Folgejahr übertragen werden können, könne die Rechnung aufgehen. „Wenn die Überjährigkeit funktioniert, können wir den Preis bei 49 Euro bis zur Bundestagswahl stabil halten. Der politische Druck ist hoch“, sagte Polzin. Wie es nach der Wahl 2025 weitergeht, sei derzeit jedoch völlig offen. „Ticketpreisentwicklung ist ein ganz schwieriges Thema, denn irgendwo ist immer Wahlkampf“, merkte der Abteilungsleiter aus Bremen an.

In der Hansestadt liegt die letzte Bürgerschaftswahl zwar erst einige Monate zurück, trotzdem sagte die für Mobilität zuständige Senatorin Özlem Ünsal (SPD): „Dass der Preis von 49 Euro bisher gehalten werden konnte, ist ein gemeinsamer Erfolg und mir ein ganz besonderes Anliegen.“ Die norddeutschen Bundesländer seien eine „schlagkräftige Truppe“, die im Schulterschluss auch weiterhin gemeinsam für das D-Ticket kämpfen würden. „Dieses Ticket darf nicht beerdigt werden“, betonte Ünsal. Sie will das günstige ÖPNV-Angebot in Bremen sogar noch durch ein vom Land subventioniertes Sozialticket ausweiten. Ünsal: „Wir verfolgen das Ziel, auch Menschen mit kleinem Geldbeutel in den Genuss des Deutschlandtickets zu bringen.“

Ländlicher Raum profitiert von Mobilitätswende nicht

Der niedersächsische Staatssekretär Frank Doods bestätigte die Einigkeit zwischen den Bundesländern bei Verkehrsfragen: „Im Grunde kann man Bremen und Niedersachsen gar nicht trennen. Wir haben ganz viele gemeinsame Themen und ganz viele gemeinsame Probleme.“ Allerdings denkt der gebürtige Südniedersachse, der im Kreis Northeim wohnt, auch an den ländlichen Raum. „Da gibt es die verständliche Frage: Was habe ich davon, wenn man im Raum Hannover, Bremen oder Braunschweig besser und günstiger zur Arbeit kommt? Wo habe ich die Möglichkeit an neuer Mobilität teilzuhaben?“, fragte Doods.

Der Staatssekretär betonte: „Auch im ländlichen Raum müssen wir zu Fortschritten kommen und das setzt voraus, dass wir mehr Geld ins System bekommen – nicht nur für das Deutschlandticket.“ Der ÖPNV-Ausbau dürfe nicht nach dem Prinzip ablaufen, dass es da, wo es bereits gut läuft, noch besser wird, während dort, wo bislang kaum Angebote vorhanden sind, auch weiterhin nichts geschieht. „Wir müssen faire Verhältnisse im Land herstellen“, forderte Doods.

Diskutieren in Bremen über den ÖPNV der Zukunft (von links): Kai-Henning Schmidt, Michael Neugebauer, Özlem Ünsal, Frank Doods und Joachim Berends. | Foto: Link

Die gleichen Befürchtungen teilen auch die Verkehrsunternehmer. „Wir haben den Eindruck, dass im ÖPNV nur noch über das Deutschlandticket geredet wird“, beklagte VDV-Chefstratege Lars Wagner, der aus Berlin zugeschaltet war. Er fügte hinzu: „Das Gesamtsystem besteht aus wesentlich mehr als dem Deutschlandticket. Wir brauchen eine gemeinsame Idee, wie wir die Branchenfinanzierung als Ganzes sichern.“ Wagner drängte auf Fortschritte beim Ausbau- und Modernisierungspakt (AMP) für den ÖPNV zwischen Bund und Länder, der im Koalitionsvertrag festgeschrieben ist.

Die ohnehin schwierigen Verhandlungen würden jedoch durch den Streit um das D-Ticket zusätzlich ausgebremst. VDV-Landesgeschäftsführer Ulf Keller kündigte in diesem Zusammenhang an, noch tiefer in den Dialog mit den kommunalen Spitzenverbänden einsteigen zu wollen. „Wir müssen strategisch und langfristig über die Frage sprechen: Welche Form von ÖPNV wollt ihr überhaupt“, sagte Keller.

Bei der Verkehrsministerkonferenz in der kommenden Woche hoffen die Verkehrsexperten zumindest bei der Einnahmenverteilung des Deutschlandtickets auf einen Durchbruch. „Wir in Niedersachsen haben unsere Hausaufgaben gemacht und warten nun auf den Bund“, sagte Jasha Uygungül aus dem niedersächsischen Verkehrsministerium. Die Diskussion um die Finanzierung trete bereits seit drei Monaten auf der Stelle. Der stellvertretende Referatsleiter für ÖPNV zeigte sich allerdings zuversichtlich, dass die Länder den nötigen Druck für Verhandlungsfortschritte aufbauen können.

„Mit welchem Erfolg will das Bundesverkehrsministerium noch aufwarten, wenn nicht mit dem Deutschlandticket?“

„Mit welchem Erfolg will das Bundesverkehrsministerium noch aufwarten, wenn nicht mit dem Deutschlandticket?“, fragte Uygungül. Bisher werden die Einnahmen des Deutschlandtarifverbunds (DTV) immer noch anhand der in der Vergangenheit erzielten Fahrgeldeinnahmen verteilt. Dabei sollte ab 2024 bereits das Postleitzahlenmodell gelten, wonach der Wohnort der Kunden für die Einnahmeverteilung ausschlaggebend ist.

Hat seine Hausaufgaben gemacht: ÖPNV-Planer Jasha Uygungül. | Foto: Link

Wie Uygungül berichtete, ist in diesem Jahr zwar nicht mehr mit einer Umstellung zu rechnen. Es gebe jedoch bereits eine „Schattenbetrachtung“ für 2024, um überschüssige Gelder in dreistelliger Millionenhöhe aus dem DTV-Topf zu verteilen. „Wenn wir diese Millionen fair verteilen, werden die Finanzierungsproblematiken deutlich weniger werden“, sagte der ÖPNV-Experte. Trotz aller Fairness ist die Umstellung der Mittelverteilung nicht unproblematisch: „Wenn wir auf Postleitzahlen umsteigen, landet das Geld in den Regionen, wo viele Tickets verkauft werden – und das sind nicht die ländlichen Regionen“, sagte der VDV-Experte Wagner. Ein Verkehrsunternehmer äußerte daraufhin die Befürchtung: „Das Deutschlandticket könnte zum trojanischen Pferd werden, dass dem ländlichen Raum massiv schadet.“

Die Einnahmeverteilung nach Postleitzahlen ist allerdings auch nur als Zwischenstufe gedacht. Ab 2026 sollen überall automatische Fahrgastzählsysteme zum Einsatz kommen. Dadurch landet das Geld dann nicht mehr bei den Unternehmen, in deren Zuständigkeitsgebiet die Kunden wohnen, sondern bei den Betrieben, die die Kunden tatsächlich von A nach B bringen. Die ungleiche Mittelverteilung zwischen Ballungsräumen und ländlichen Gebieten wird dadurch freilich nicht aufgehoben. Wagner betonte deshalb: „Wir brauchen neben dem Deutschlandticket auch das Deutschlandangebot.“ Bei der Einführung des D-Tickets habe man den zweiten vor dem ersten Schritt getan. „Wir haben immer betont: erst braucht man das Angebot und dann kann man über das Ticketing reden. Das will nur keiner mehr hören“, seufzte der Verbandsverteter.

In den Großstadt-Regionen profitieren viele Menschen vom Deutschlandticket. In ländlichen Bereichen, wo kaum ein Bus fährt, sieht das anders aus. | Foto: GettyImages/lowkick

Aus Sicht der Verkehrsunternehmer ist noch eine andere Forderung ganz zentral: „Der Markterfolg des Deutschlandtickets kann nur gelingen, wenn wir eine langfristige Finanzierungszusage haben. Wir müssen wegkommen von diesem jährlichen Gerangel“, sagte Wagner. Ideal sei eine Finanzierungssicherheit für zehn Jahre. „Momentan wären wir aber schon froh, wenn wir wüssten, wie es 2026 weitergeht“, meinte der VDV-Experte. Die Verkehrsbehörden in den Ländern wünschen sich ebenfalls diese Planungssicherheit für zehn Jahre.

Laut Polzin gibt es allerdings ein grundlegendes strukturelles Problem: „Das Deutschlandticket ist nicht einem einzelnen Produktverantwortlichen zugeordnet – den werden wir irgendwann aber brauchen. Wir benötigen einen Tarifgeber“, sagte der Bremer Abteilungsleiter. Derzeit entscheide die Verkehrsministerkonferenz über den Ticketpreis, die dafür aber eigentlich gar nicht wirklich zuständig ist. Hier müsse eine dauerhafte Struktur geschaffen werden. Sehr deutlich sprach sich Polzin gegen eine gesamtstaatliche Lösung aus: „Als Befürworter des Föderalismus finde ich es schwierig, dass wir immer mehr Themen nach oben abgeben.“

Dieser Artikel erschien am 11.4.2024 in Ausgabe #067.
Christian Wilhelm Link
AutorChristian Wilhelm Link

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